Wie du lernst, achtsam zu sein

von Johannes Justus

Nicht wenige Menschen leiden gegenwärtig unter Stress und Überlastung sowie mit den damit verbundenen Auswirkungen auf den Körper und die Seele. Sich in Achtsamkeit zu üben, ist seit einiger Zeit ein bewährtes Mittel, um das eigene Leben in die nötige Balance zu bringen. Doch woher genau kommen Achtsamkeitsübungen? Was verbirgt sich hinter diesem Begriff der Achtsamkeit und wie kann man achtsam leben?

 

Ursprung und Definition

Weit verbreitet ist die Annahme, dass die modernen Achtsamkeitstechniken ihre Wurzeln in den alten östlichen Religionen Buddhismus und Hinduismus haben. Diese Darstellung ist etwas verkürzt. Achtsamkeit hat auch Wurzeln im Judentum und im Christentum. Im Grunde haben alle großen Religionen in den letzten Jahrtausenden Meditationstechniken hervorgebracht, die Schnittmengen mit der modernen Achtsamkeitspraxis haben.

Achtsam sein bedeutet, dass man das, was in einem und außerhalb von einem passiert, möglichst oft und bewusst wahrnimmt. Es ist also die menschliche Fähigkeit, geistig kontinuierlich präsent zu sein und sich dabei nicht von den Einflüssen der Umwelt überfordern zu lassen. Im Prinzip kann jeder lernen, achtsam zu sein. Achtsamkeit verlangt keine besonderen menschlichen Leistungen. Sie ist etwas, was jedem Menschen innewohnt.

 

Von Paulus lernen

Wenn ich über Achtsamkeit nachdenke, werde ich immer wieder an die Worte des Apostel Paulus an seinen Schüler Timotheus erinnert:

Achte sorgfältig auf dich selbst und auf die Lehre. Bleib der Wahrheit treu, und Gott wird dich und alle, die dich hören, retten. (1. Tim. 4,16)

Paulus wendet sich in diesem Abschnitt des Neuen Testaments an seinen Schüler Timotheus und ermutigt ihn, sorgfältig auf sich, auf alles, was er tut, und auf das, was er spricht, zu achten. Man könnte also auch sagen, dass er ihn zur Achtsamkeit auffordert. Paulus geht hier wie im gesamten Timotheusbrief seelsorgerlich vor. Ihm geht es nicht um Kontrolle oder Überwachung, sondern es ist sein Ziel, Timotheus zu stärken.

Ich sehe in den Worten des Apostels eine ganzheitliche Achtsamkeit. Er spricht schließlich mehrere Lebensbereiche an, die ich im Folgenden in vier Bereiche unterteile.

 

1. Deine Innenwelt

Zunächst einmal ist es sinnvoll, sein eigenes Innenleben im Auge zu behalten. Das kommt mir als Erstes in den Sinn, wenn ich Paulus‘ Rat „Achte sorgfältig auf dich selbst“ lese. Damit sind die eigenen Gedanken und Gefühle oder auch die eigene Einstellung gemeint.

Ich stelle mir dazu gerne ein paar Fragen, um mein Herz zu prüfen:

  • Wie sieht es darin aus?
  • Wie denke ich über mich und über meine Fähigkeiten und Begabungen?
  • Wie betrachte ich meine Umwelt? Ist sie voller Probleme oder sehe ich in ihr auch Möglichkeiten?
  • Was geschieht in mir, wenn ich bestimmte Menschen sehe oder ihnen begegne? Wie sehe ich diese Mitmenschen?

Achtsamkeit kann erlernt werden. So wie ein Musiker übt und dazulernt, bis er irgendwann die Fähigkeit besitzt, ein Lied zu spielen. So kann auch das eigene Herz trainiert werden, bis man in der Lage dazu ist, die Melodie des eigenen Lebens zu spielen. Dies geschieht durch das eigene Denken, die eigenen Worte und die daraus resultierenden Taten. Mit ihnen gestaltet man seine Welt.

So ist es im Übrigen auch mit der Liebe. Auch sie wird erlernt, indem man auf die eigenen Gedanken und Worte achtet, sich die richtigen Fragen stellt und die eigenen Antworten prüft.

 

2. Deine Werte und Prinzipien

Im Folgenden rät Paulus, auf die Lehre zu achten. Im übertragenen Sinne könnte man auch sagen, dass Timotheus auf das achten soll, was er lernt und an andere weitergibt.

Ich spreche in diesem Zusammenhang auch gerne von werteorientiertem Verhalten. Werte haben eine Funktion, die Leuchttürmen gleichkommt. An ihnen orientieren sich Menschen. Auch die eigenen Leuchttürme müssen immer wieder neu überprüft und anhand der heiligen Schrift ausgerichtet werden.

Damit die eigenen Werte nicht aus den Bahnen geraten, ist es sinnvoll, auf die Einflüsse zu achten, denen man sich aussetzt. Hippokrates sagte einst: „Eure Nahrung soll euer Heilmittel sein.“ Dies sagte er in Bezug auf den Körper des Menschen. Doch, was für den Körper gilt, gilt auch für den menschlichen Geist und die Seele. Auch sie sollten richtig ernährt werden.

Achte also darauf, dass du deinen Geist gemäß deinen Werten ernährst und das Schädliche meidest. Auf folgende Dinge kannst du konkret achten:

Medien: Der Medienkonsum sollte achtsam untersucht werden. Die Welt kann für einen sehr düster aussehen, wenn die eigenen Werte und Prinzipien durch Medien jeglicher Art beeinflusst werden. Es stellt sich die Frage, ob die Medien einem selbst guttun.

Beziehungen: Auch auf die Beziehungen ist zu achten. Man sollte Kontakt zu Menschen suchen, die einem guttun. Man braucht Freunde und Bekannte, die einen selbst inspirieren. Dabei gilt auch, manche Kontakte zu meiden. Es gibt Menschen, die Energie und Kraft rauben oder auch schaden.

 

3. Deine Motive

Zuletzt ermutigt Paulus seinen Schüler Timotheus, an seinen Ratschlägen festzuhalten. Er soll sich nicht von falschen Motiven lenken lassen, sondern sich an dem ausrichten, was sein Lehrer ihm weitergegeben hat. Dies wird schließlich zur Folge haben, dass Gott ihn und seine Zuhörer retten wird.

Falsche Motive können einen auf schlechte Bahnen bringen, daher sollte man ein tiefes Verständnis für das haben, was in einem geschieht.  Wer achtsam ist, beobachtet sich selbst und erforscht die eigenen Beweggründe.

Ich habe meine eigene Methode dafür entwickelt: W. O. U. – Diese Buchstaben stehen für Wahrnehmen, Offenbaren und Umarmen.

Wahrnehmen: Ich beobachte, was in mir geschieht, und überprüfe meine Motive dabei. Dazu stelle ich mir folgende Fragen:

  • Was bewegt mich in dieser Situation?
  • Geht es um die Sache oder um meine Wünsche und Vorstellungen?
  • Welche verborgenen Anliegen habe ich?
  • Wem bringt das den größten Nutzen? Mir oder den anderen?

Offenbaren: Ich spreche mit Menschen meines Vertrauens auch über meine Beweggründe, um weitere Reflexionen oder einen „unverstellten“ Blick auf Situationen zu erhalten. Ich kann meine Selbstwahrnehmung sozusagen durch meine Ratgeber präzisieren (Spr. 11,14; 15,22).

Diese Entscheidungen erfordern besonders viel Mut, weil ich mir selbst und anderen gegenüber offen sein muss. Damit mache ich mich auch verletzlich. Außerdem ist die Kluft zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung nicht selten sehr groß. Was mir dabei hilft, ist die Tatsache, dass keiner ein vollständiges Bild der Wahrheit hat, denn Wahrnehmungen sind immer subjektiv. Ich muss also abwägen, inwieweit ich meine Sicht der Dinge durch die Außensicht ergänzen bzw. nachjustieren lasse. Diese Entscheidungen können mir keine Ratgeber abnehmen.

Umarmen: Ich nehme mein eigenes Leben an. Menschen, die ihr eigenes Leben nicht annehmen und es lieben, werden zu sehr abhängig von äußerer Bestätigung. Dies kann zu einem falschen Motiv werden oder zu falschen Motiven führen.

Annehmen und lieben kann man aber nur das, was man auch sieht. In der Achtsamkeit erkennt man die eigenen Schwächen und Unzulänglichkeiten und lernt, diese anzunehmen. Wer gelernt hat, sich selbst zu lieben und zu respektieren, dem wird es auch einfacher fallen, andere zu lieben und zu achten.

 

4. Dein Umfeld

Nachdem man achtsam sich selbst beobachtet hat, sollte der Blick zuletzt auf das eigne Umfeld wandern. Wir sehen in Paulus‘ Worten, dass Timotheus nicht nur um seiner selbst willen achtsam sein sollte; es geht letztlich auch um seine Mitmenschen.

Diese Verlagerung der Aufmerksamkeit von sich selbst auf andere bringt konstruktive Vorteile: Sie löst Konkurrenzdenken auf. Sie hilft, besser im Team zu arbeiten, und lädt dazu ein, Probleme gemeinsam anzugehen und zu lösen. Darüber hinaus eröffnet sie neue Wege zur selbstlosen Liebe. Solch eine Liebe bringt weitere Vorteile für einen selbst und seine Mitmenschen:

  • Sie klammert sich nicht und hält nicht fest, sondern setzt andere frei.
  • Sie befreit von Erwartungen, Befürchtungen, Ansprüchen auf bestimmtes Verhalten und die damit verbundene Hoffnung.

Achte also auch auf die Menschen, die dir begegnen. Bleib mit deinen Gedanken, Hoffnungen und Sorgen nicht nur bei dir, sondern öffne dich für das Leben und alles, was das Leben mit sich bringt: den Anderen. So wird die Achtsamkeit nicht nur ein Segen für dich, sondern auch für die Anderen. Denn, wie sollen andere Menschen einen lieben und schätzen, wenn man selbst nicht in der Lage dazu ist, andere zu lieben und zu schätzen? In dem man achtsam mit anderen umgeht, gibt man etwas weiter, was letztlich einem selbst zugutekommt.

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