Plötzlich fand Irene sich wie in dem dunklen Tal wieder, welches sie vor Jahren mühselig durchquert hatte. Die Gegenwart war plötzlich ausgelöscht, so als ob sie überhaupt nicht existierte. Irene fühlte sich, als ob sie auf einer Hängebrücke stand, die alt und morsch war und jede Sekunde zu reißen drohte. Darunter befand sich eine tiefe Schlucht. In ihren Gefühlen und Gedanken war es dunkel. Sie spürte und hörte, wie die finsteren Mächte als bellende Hunde sie von links und rechts angriffen und sie in Stücke reißen wollten. Von Panik ergriffen hielt sie sich an den Stricken fest, die jeden Moment reißen konnten. Diese Seelenbefindlichkeit war nicht so einfach in Worte zu kleiden …
„O Herr, hilf mir!“, rief sie verzweifelt. Es schien als ob ihr Inneres in Stücke gerissen wurde.
„Bitte, Herr …“, rief sie weinend weiter, „hilf mir, dir zu vertrauen! Gib mir Kraft, lehre mich zu glauben, Geduld zu haben und durchzuhalten. Hilf mir, nicht an dir zu zweifeln.“
Irene war schon immer schnell auf ihren Beinen und konnte laufen wie der Wind. Trotzdem gab es Dinge in ihrem Leben, vor denen sie nicht davonlaufen konnte. Diese Krankheit gehörte dazu. Es war ihr klar, hier musste sie nun durch. Es gab kein Zurück, aber das Wort Gottes sagt: „… ich bin bei dir, mein Stecken und Stab trösten dich.“
Das liest sich gut, aber solch eine Situation zu durchleben und sich an diesem Wort festzuhalten war unmöglich! Es blieb ihr aber nichts anderes übrig und so hielt sie sich wie einer, der gerade untergeht, an diesem Strohhalm fest.
Kommen die Depressionen wieder? Sind sie schon da? Sie kehrte in sich und tat Buße, hier und jetzt. Als sich dies alles in ihrem Inneren abgespielt hatte und als sie sich wieder an alles erinnerte, lief ihr kalter Schweiß den Rücken runter und ihre Nackenhaare sträubten sich vor Angst.
Am nächsten Morgen ging sie nach dem Badezimmeraufenthalt direkt ins Büro, wo Johannes an seiner Predigt arbeitete. Er schaute sie an und fragte: „Was hast du denn, du guckst mich so ängstlich und fragend an?“
Vor Schreck schlug Irene das Herz bis zum Hals und von einem Moment auf den anderen fühlte sie sich unsicher und allem nicht mehr gewachsen. Sie versuchte sich auf irgendetwas anderes zu konzentrieren, als auf ihre Ängste und Gefühle, die sie total durcheinanderbrachten.
Mit vor Angst zugeschnürtem Hals sah sie Johannes an, denn die Angstzustände, die sie vor Jahren quälten, waren wieder so massiv da. Die Panik, dass die Depression wiederkehren würde, hatte ihr schreckliche Angst eingejagt.
„Warum fühle ich mich so wie damals? Wie kann das möglich sein?“, dachte sie, aber es war Realität. Am liebsten hätte sie sich verkrochen und versteckt, aber wohin bloß?
„Flöge ich in den Himmel, wie die roten Schleier der Morgenröte über den Himmel wehen – und flüchtete ich mich hinter das letzte Meer, wie die Morgenröte vor der Sonne flieht, so würde mich deine Hand doch finden und deine Rechte mich packen“, kam ihr in den Sinn (Psalm 139 nach Jörg Zink).
Erst jetzt fiel Johannes auf, wie schlecht sie aussah. Ihre Haare hingen ihr in dünnen Strähnen ins Gesicht, ihre Augen waren blutunterlaufen und tief eingesunken, die Haut war grau.
„Ich wollte mit dir allein sein“, sagte sie.
„Um mich bei dir zu entschuldigen“, begann sie ihm vorzutragen.
„Ich habe mir mein Leben mit dir ganz anders vorgestellt. Es tut mir leid, dass ich dich wieder in so eine Situation bringe. Ich habe nicht damit gerechnet, dass die Krankheit wiederkommt, die hoffentlich unsere Beziehung nicht in Schwierigkeiten bringen kann?“
Ihre Stimme wurde nachdenklich, als würde sie zu sich selbst reden.
„Wovon redest du?“, fragte er, während er sie anschaute.
„Wahrscheinlich haben wir zu viele Auseinandersetzungen in unserer Ehe gehabt, zu viel gearbeitet oder sonst was? Ich weiß es nicht, aber mir geht es sehr schlecht“, fügte sie weinend hinzu.
„Hör doch bitte damit auf!“, erwiderte er, „schiebe nichts unserer Ehe zu, außerdem ist unsere Ehe nach meinem Ermessen gut!“
„Ich weiß nicht, was ich tun soll! Das ist so schlimm, dass du es dir nicht vorstellen kannst“, antwortete sie schluchzend. Sie wollte sich für alles entschuldigen und Buße tun, Hauptsache es würde alles wieder gut werden.
„Wir haben schon so viel überstanden und das schaffen wir auch noch!“, ermutigte er sie.
„Bete für mich, ich weiß nicht wohin mit mir“, flüsterte sie.
In den nächsten Wochen wurden sämtliche Ärzte besucht und alle schienen sich einig zu sein, dass es eine Depression sei. Doch Irene wollte es nicht wahrhaben. So hatte sie sich in den folgenden Tagen so sehr damit beschäftigt, alles Notwendige zu regeln, den Kindern so viel Zeit wie möglich zu schenken und das Haus in Ordnung zu halten, dass kaum Zeit blieb, über das, was auf sie zukam, nachzudenken. In letzter Zeit hatte sie häufig phasenweise eine gewisse Müdigkeit verspürt und wenn die Arbeit getan war, musste sie danach ein paar Tage im Bett liegen. Trotzdem fiel es ihr schwer, diesen Gedanken zuzulassen, denn sie sagte sich selbst, dass Christen keine Depression haben …!
„Warum passiert das ausgerechnet mir?“, fragte sie sich.
Ihr war klar, wenn es wirklich eine Depression war, dann kam sie nicht von heute auf morgen. Genauso wenig kann sie von heute auf morgen wieder verschwinden, es ist ein Prozess, obwohl dem Herrn alles möglich ist. Es war ihr größter Wunsch, aber er heilte sie nicht, aus welchem Grund auch immer.
Sie bedauerte sich und in dieser Situation, in der ihr die Angstzustände extrem zu schaffen machten, ist ihr das Geheimnis des Roten Meeres groß geworden, als sie es gelesen hatte.
In Holland wurde während des Zweiten Weltkriegs eine jüdische Frau mit vielen anderen Volksgenossen in einen Güterzug getrieben, der sie nach Auschwitz bringen sollte. Die Frau hatte eine solche Angst, dass sie davon fast wahnsinnig wurde. In dem überfüllten Waggon von Menschen entdeckte sie einen alten Rabbi. In ihrer Not stürzte sie zu ihm hin und schrie:
„Hilf mir doch, ich werde verrückt vor Angst!“
Genauso fühlte sich Irene. Sie hatte fürchterliche körperliche Beschwerden, es tat ihr einfach alles weh. Sie wollte nicht mehr leben, war von Selbstmordgedanken geplagt und von innerer Unruhe hin und her getrieben. Konzentrationsstörungen, Schlaflosigkeit, Appetitlosigkeit und unbeschreibliche Angstzustände überkamen sie. Sie verlor Gewicht und weinte viel.
Zermürbt von Krankheit und angeblicher Schuld konnte sich Irene mit dem Psalmisten identifizieren:
„Herr, du lässt mich deinen Zorn spüren. Ich flehe dich an: Strafe mich nicht länger! (Psalm 6,2). Deine Pfeile haben sich in mich hineingebohrt, deine Hand drückt mich nieder. (Psalm 38,3). Weil ich unter deinem Strafgericht leide, habe ich keine heile Stelle mehr am Körper … Sind alle meine Glieder krank, alles tut mir weh. Wie schwer ist diese Last! Ich breche unter ihr zusammen.“
Gekrümmt und von Leid zermürbt schleppte sie sich in tiefer Traurigkeit durch den Tag. Ihr Körper kribbelte ständig, so wie bei einem Menschen Hand oder Bein einschläft, es fühlte sich so an wie Mückenstiche. Genauso zerschlagen lag sie im Bett und musste zusehen, wie sie ihrer Familie zur Last geworden war. Sie war am Ende mit ihrer Kraft. Vor Verzweiflung konnte sie nur noch weinen und stöhnen.
„Herr, du kennst meine Sehnsucht, du hörst mein Seufzen. Erbarme dich meiner!“
„Mein Herz rast, ich bin völlig erschöpft, und meine Augen versagen mir den Dienst.“
„Du siehst, ich liege am Boden, ständig werde ich von Schmerzen gequält“ (Psalm 38,10.11.18).
Ein Stoßgebet nach dem anderen sandte sie zum Himmel, aber gefühlt stießen sie an der Zimmerdecke an. Sie musste daher die dunklen Tage mit Geduld ertragen. Entmutigung und Furcht hatten sich wie eine schwere Decke über sie gelegt und all ihr Vertrauen, dass der Herr ihr Leben verschonen würde, war dahin. Dennoch hatten Johannes und ihre sechs gemeinsamen Kinder sie sehr gut versorgt. Er hatte Glauben für sie und starke Hoffnung, dass bald alles vorüber war. Seine tägliche Ermutigung schien nur für eine kurze Zeit Wirkung zu zeigen. Er hatte ihr aus der Bibel vorgelesen und Essen ans Bett gebracht. In diesem Seelen- und Körperleiden hatte Johannes mit ihr jeden Abend gebetet. An einigen Abenden hatte er bis zur siebten Generation von Vorfahren alles durchgebetet, denn manche Geschwister aus der Gemeinde hatten Öl ins Feuer gegossen, indem sie sagten: „Es muss irgendetwas bei euch nicht stimmen, wir beten für euch und es passiert nichts. Es muss bestimmt eine Sünde bei euch vorliegen.“
Solch eine Aussage bereitete den beiden natürlich noch einen zusätzlichen Schmerz.
Irene glaubte, es gab nur eine einzige sinnvolle Art zu leben, nur einen Weg, um zur Ruhe zu kommen, nämlich dass der Herr sie heilen würde. Aber es geschah nicht.
Sie starrte in den dunklen Nachthimmel. Hatte ein himmlischer Engel zu ihr geredet, um ihr schlechtes Gewissen und ihre Schuldgefühle noch zu steigern? Oder war es ein höllischer Dämon, der sie in den Wahnsinn treiben wollte? Vielleicht war das Ganze aber auch nur ein unglaublicher Zufall? Sie ließ den Kopf hängen und beklagte ihr Schicksal.
In diesem Moment schien es ihr, als würde eine große schwarze Wolke ihr die ganze Sicht zum himmlischen Vater versperren. Ihr Glaube wurde weniger und weniger, sodass sie nicht mehr selber beten konnte und stattdessen Gebete von ihrem Mann und von Geschwistern aus der Gemeinde wie Almosen sammeln musste. Wenn schon der Himmel für sie dicht war, so hatte sie wenigstens die Hoffnung, dass bei den anderen die Sonne scheinen würde und ihre Gebete erhört werden.
Manche Christen legten Johannes noch eine größere Last auf, als er in Bezug auf ihren Glauben an göttliche Heilung ohnehin schon trug. Sie waren für ihn sehr verletzend gewesen, denn sie fragten: „Wie kommt es, dass wenn du für andere Geschwister betest, sie gesund werden und deine eigene Frau nicht?“
Eine Frage nach der anderen drehte sich in Irenes Kopf.
„Ist dieses Problem nicht schon groß genug“, dachte sie, „warum müssen die Gemeindegeschwister nun auch noch mit solchen Fragen kommen?“
Neben den großen Familienverpflichtungen begann nun ihre eigene Odyssee von Facharzt zu Facharzt. Dies führte sie schließlich an den Punkt, an dem sie, bildlich gesprochen, die weiße Fahne hisste. Auf dem Stuhl einer einfühlsamen Hals-Nasen-Ohren-Ärztin sah sie ein, dass sie aufhören musste zu kämpfen.
„Sie zerstören sich selbst“, sagte sie, „tun Sie was …!“
„Was soll ich tun?“, fragte Irene sich. Die Ärzte können sowieso nicht helfen, das hatte sie sofort abgehakt, den Gedanken wollte sie gar nicht zulassen. Klinik? Nein, kommt nicht infrage. In ihrem Leid wollte sie nicht den Leuten dort begegnen, aus deren Gesichtern sich das ganze Spektrum abzeichnete, von interessiert bis abgestumpft, von manisch aufgedreht bis depressiv verschlossen. Wo sie langsam mit schlurfendem Gang den langen Korridor entlanggehen und mit den Taschentüchern andauernd wischen müssen, weil ihnen der Speichel unkontrolliert aus dem Mund läuft, wenn sie auf die Medikamente eingestellt werden und eine ganze Serie von Nebenwirkungen durchleiden müssen. Nein, das wollte sie auf gar keinen Fall.
Endlich stolperte sie zu ihrem Wagen zurück und lehnte sich gegen den Kotflügel. Langsam stieg sie ins Auto, wischte ihre tropfende Nase mit dem Handrücken ab und starrte traurig auf ihr eingefallenes Gesicht, das sich in der Fensterscheibe spiegelte. So saß sie da und versuchte ihrer selbst wieder Herr zu werden.
Sie blieb noch länger hinter dem Steuer sitzen und sah dem Wasser des Flusses hinterher, bis sie sicher war, dass sie wieder klar genug denken konnte, um loszufahren.
Es begann zu nieseln. Graue Wolken hingen am Himmel, Nebel erfüllte den Ort.
Müdigkeit machte sich in ihren Gliedern breit, aber sie konnte sich nicht zusammenraffen, da ihr viele Fragen durch den Kopf gingen. Stundenlang grübelte sie und zerbrach sich den Kopf … Warum? Warum?
Für ihre geliebten Kinder hätte sie sich ihr Leben lang aufgeopfert, nun war alles weg, sie war wie abgebrüht. Das kann ein gesunder Mensch sich nicht vorstellen, wie Gefühle sterben können, wie sie sich ändern … Unfassbar!
Der einzige Mann, mit dem sie verheiratet gewesen war, der einzige Mann, den sie jemals wirklich geliebt hatte, wie kann das sein? Johannes war jetzt 41 Jahre alt. Seine reife Ausstrahlung faszinierte sie schon immer. Er schien in den letzten Jahren noch anziehender geworden zu sein. Wie hatte sie für ihn, den gut aussehenden Mann, jegliche Gefühle verlieren können?
Ihre Lippen zuckten, ihre Haut zog sich zusammen. Verzweiflung und Sehnsucht wurden schier unerträglich.
Als sie kurz anhalten musste, presste sie ihre Stirn gegen die kalte Fensterscheibe des Autos. Die sieben Menschen ihrer Familie wiederzusehen war eine Freude, die größer war als jede Freude, die sie jemals erlebt hatte. Gleichzeitig aber machte es sie fast wahnsinnig, dass sie für sie nicht mehr da sein konnte. Allein die Vorstellung ließ ihr einen kalten Schauer über den Rücken laufen.
Selbstmordgedanken plagten sie und drängten sie dazu, gegen einen Baum zu fahren, so als ob es nach einem Autounfall aussehe. Rasch hielt sie an.
„Nein!“, stieß sie atemlos hervor. „Nein! Dann hab ich kein ewiges Leben! Nein!“
Die Worte brachen aus ihr heraus. Das darf auf keinen Fall passieren …
„O Herr, hilf mir!“
„Nein!“, rief sie immer wieder aus. Trotzdem verschaffte es ihr keine Erleichterung.
Ihre Seele drohte zu zerreißen, sie krallte die Finger ins Lenkrad und hielt sich fest.
Sie lehnte sich zurück, ihre Bauchdecke hob sich, um wieder Luft in die Lungen strömen zu lassen, während Bilder ihrer Kinder und ihres Ehemannes an ihren geschlossenen Augen vorüberzogen.
„Ich bekenne meine Schuld, o Herr! Ich möchte gar nicht darüber nachdenken, geschweige es tun!“ Innerlich bestürmte sie den Himmel.
Als sie zu Hause ankam, ging Irene zum Telefon und rief eine Glaubensschwester aus der Gemeinde an, um ihr ihr Leid zu klagen und Unterstützung zu bekommen. Heulend erzählte sie ihr das Geschehene.
„Was uns nicht umbringt, macht uns nur härter! Weiterkämpfen, den Feind schaffen wir schon!“, sagte die Frau an der anderen Leitung und legte den Hörer auf.
Traurig ging Irene weiter durch dunkle Täler der Resignation und Ausweglosigkeit. Oft hatte sie das Gefühl, nur noch wie ein Roboter zu funktionieren und kaum einer verstand sie.
Plötzlich stand nach ein paar Tagen eine Glaubensschwester aus der Verdener Gemeinde vor Irenes Tür. Ihr Name war Anni Potratz, sie hatte Verständnis und Einfühlungsvermögen. Eine Zeit lang kam sie jeden Tag, um Irene Mut zu machen und ihr mit den Kindern und bei der Hausarbeit zu helfen. Sie kochte das Essen und unterstützte sie einfach da, wo es nur möglich war. Über Irene schwappte eine Welle der Dankbarkeit hinweg. Sie fühlte sich geliebt und wertgeschätzt, sodass ihr die Tränen kamen. Das war nicht selbstverständlich.
„Danke“, flüsterte Irene jedes Mal, wenn sie Anni abends verabschiedete, während sie erleichtert nach einem Taschentuch griff und sich die Nase putzte.
Es war schon spät, als sie für die Kinder und für sich selbst das Abendbrot zubereitete. Nach mehreren nahezu schlaflosen Nächten ließ die Anspannung merklich nach und machte einer großen Erschöpfung Platz. Irene war schrecklich müde und fühlte sich ganz allein mit der Fülle von Aufgaben, die ein Haushalt mit sechs Kindern mit sich brachte. Ein Pochen in der Stirn und am Hinterkopf war das erste Anzeichen einer Migräne. Gut, dass ihr Mann ihr zur Seite stand. Gut, dass Anni jeden Tag kam.
„Diese Menschen sind Gottes Hände, die sich mir helfend entgegenstrecken“, dankte sie seufzend. Ohne diese wenigen, freundlichen Menschen hätte sie die gegenwärtige Not nicht ertragen. Sie nahm eine Kopfschmerztablette und hatte sich mit den Kindern zum Essen gesetzt, doch sie bekam keinen Bissen runter. Nach kurzer Zeit klingelte das Telefon. Eine Glaubensschwester aus der Gemeinde war dran und wollte sich nach Irenes Befinden erkundigen. Als sie feststellte, dass keine Veränderung da war, sagte sie: „Du sollst Lobpreis machen, sonst wirst du noch was weiß ich wie lange Zeit Depression haben!“
Für Irene waren solche Ratschläge eher Rat-Schläge. Traurig legte Irene auf, denn sie musste zugeben, dass sie keinen Lobpreis machen wollte. Es war ihr nicht danach.
Wie oft hatte sie die Predigten gehört, dass es im Leben eines Christen mitunter drunter und drüber gehen könne, aber dennoch habe Gott immer alle Fäden in der Hand und sei in seiner Liebe und Allmacht stets Herr über alles. In den vergangenen Tagen hatte Irene immer öfter darüber nachdenken müssen, ob diese Lehre wirklich biblisch war. Vielleicht war dies auch nur ein in ihrer Denomination übliches positives Wunschdenken? Ein schrecklicher Gedanke …
„Herr, vergib mir!“, brach es aus ihr heraus und sie begann wieder zu weinen.
„Ich verliere meinen Glauben! Ich verstehe gar nichts mehr. Jesus, bitte hilf mir! Sei mir gnädig!“
Irene wollte beten, ihr Herz vor Gott ausschütten, seinen Trost und seine Nähe suchen, aber die Verzweiflung blockierte sie. Weiter verstrichen die Tage so quälend wie bisher. Ein unerträgliches Warten, ohne Hoffnung, ein grausames Spiel mit ihrer Seele, ihrem Körper und Geist.
Inzwischen waren Monate vergangen und sie lag immer noch hauptsächlich im Bett. Fast jeden Tag fand Johannes sie weinend, doch er hatte immer noch ein ermutigendes und ein tröstendes Wort für sie. Doch sie wurde schwächer und schwächer, sodass er sie ins Badezimmer tragen musste. Er hatte sie gebadet und wieder ins Bett gebracht.
Mitten in dieser Katastrophenphase streckten die Gemeindegeschwister ihre Köpfe sozusagen in ihr privates Heiligtum und wiederholten die gleichen Fragen …
… ob Sünde bei ihnen wäre, denn schließlich wurde für sie gebetet. Manche Fragen schockierten sie gelegentlich, wenn die Geschwister aus der Gemeinde sagten: „Warum wird es mit Irene nicht besser? Wir beten ja für euch. Könnte eine Sünde bei euch in der Familie sein?“
Johannes meinte: „Ich habe bis zur siebten Generation, nach vorne und nach hinten alles durchgebetet. Unsere Familie ist über die Maßen gesegnet. Durch Gottes Gnade darf sie beständig seinen Frieden erben, egal was wir im Augenblick durchmachen. Der Herr erfüllt uns, während wir Tag für Tag in ihm bleiben.“
Zwischen dem ganzen Leiden wurde Natalie Peter, die Mutter von Johannes, krank. Sie hatte den Namen Justus nie angenommen, obwohl alle sie unter diesem Namen kannten.
Nach einer starken Erkältung bekam sie eine Lungenentzündung, sodass sie ins Krankenhaus musste. An jenem Abend waren fast alle Geschwister von Johannes im Krankenhaus, ihre Mutter zu besuchen. Ob sie es ahnten? Johannes machte sich auch auf den Weg. Als Johannes ankam, sah ihn seine Mutter ängstlich an.
„Ich werde heute sterben“, teilte sie ihrem Sohn mit, während sie sich im Bett aufsetzte.
„Woher weiß du das?“, wunderte sich Johannes.
„Erinnerst du dich, als du noch zu Hause gewohnt hast und ich zu dir gesagt habe, wenn ich keinen Appetit mehr habe und keine Nahrung aufnehmen kann, sterbe ich. Denn ich habe so viel Leid, Not und Hunger durchlebt, trotz aller Strapazen hat mein Körper gut funktioniert und alles überwunden, aber jetzt spüre ich, dass es so weit ist. Mein Körper will nicht mehr, das weiß ich im Geist, dass der Tod ganz nah vor der Tür steht.“
„Mama, was kann ich noch für dich tun?“, fragte Johannes ergriffen.
„Bete für mich, mein Sohn“, erwiderte sie, während sie ihre Augen mit der Faust abwischte.
„Wird mich der Herr annehmen?“, fragte sie weiter mit gesenktem Kopf.
„Mama, lass uns zusammen beten, ich bete vor und du sprichst mir die Worte nach, okay?“ schlug Johannes vor, während er sich vor dem Bett niederkniete. Nach dem gemeinsamen Gebet sprach er ihr die Bibelstelle Jesaja 49,15 als Trost zu:
„Kann eine Mutter ihren Säugling vergessen? Bringt sie es übers Herz, das Neugeborene seinem Schicksal zu überlassen? Und selbst wenn sie es vergessen würde – ich vergesse dich niemals!“ Sie umarmten und küssten sich, sie legte ihren Kopf auf seine Schulter, während sie weinte und ihn um Vergebung bat. Johannes streichelte ihr übers graue Haar und küsste sie auf die Stirn. Ihre Augen waren voller Trauer und dennoch erleichtert. Als sich Johannes danach verabschiedete, war es das letzte Mal, dass er sie am Leben gesehen hatte. Nachts um 3.30 Uhr klingelte bei ihnen das Telefon. Johannes ging ran. Es war der Arzt, der die Todesnachricht überbrachte. Bis heute denkt Johannes an diesen Moment der Verabschiedung. Es ist eine Sache, einem Menschen beizustehen, aber eine ganz andere, wenn ein Mensch die Erde verlässt. Diesen Weg muss er ganz allein gehen, um vor dem Angesicht Gottes zu erscheinen. Wie gut, wenn ein Mensch Gewissheit hat, dass er im Himmel erwartet wird. Keines ihrer Kinder hatte damit gerechnet, dass es so schnell mit ihr zu Ende geht. Tief betroffen von dem Verlust, saß Johannes an diesem Abend sehr traurig da. Für Irene war es so, als ob nichts passiert wäre. Sie konnte keine Gefühle wahrnehmen, geschweige zeigen. In der Zeit ihrer Krankheit hatten sie eine Hochzeit in der Familie und die Beerdigung ihrer Schwiegermutter. Bei beiden Anlässen war sie wie tot, vollkommen apathisch. Tief in ihrer Melancholie versunken, suchte sie innere Ruhe, doch bedauerlicherweise fand sie nur innere Unruhe und Angstzustände.
Als Irene am nächsten Tag morgens im Badezimmer vor dem Spiegel stand, waren Scham, Schuld und Selbstanklage so massiv über sie hereingebrochen, dass sie ihren Anblick kaum noch ertrug.
„Diese sieben Menschen, die unter diesem Dach leben, können mir niemals vergeben“, dachte sie. Ein kalter Schauer lief ihr wieder über den Rücken. Schnell verließ sie das Bad und ging ins Schlafzimmer, wo ihr Mann sich fertig machte.
„Sag mal, benehme ich mich normal? Sehe ich normal aus? Oder bin ich verrückt?“, fragte sie Johannes.
„Wie kommst du darauf?“, fragte er sie.
„Ich will es wissen“, antwortete sie, „sag mir bitte die Wahrheit!“
„Doch, du siehst normal aus und du benimmst dich wie ein normaler Mensch“, erwiderte er.
Sie war froh, dass sie äußerlich normal wirkte, denn innerlich sah sie scheußlich, finster und trüb aus. So schleppte sie sich in jeden Tag hinein und so waren sieben Monate vergangen, die Irene überwiegend in ihrem Bett verbracht hatte. Es wurde nicht besser, nur noch schlimmer. Einmal, als sie das Fleisch aus der Tiefkühltruhe rausholte, ging sie zu Johannes ins Büro, das er sich zu Hause eingerichtet hatte.
„Weißt du, was man mit dem Fleisch anfangen kann? Was soll ich heute kochen?“, fragte sie ihn. „Wieso fragst du mich“, antwortete er, „du bist Köchin von Beruf!“
Sie nahm das Fleisch und ging in die Küche, während sie betete. „Herr, er versteht mich nicht, nur du allein kannst mich verstehen. Was soll ich tun?“, seufzte sie verzweifelt.
Alle Ideen waren weg, die Kreativität war weg, es war alles weg. Sie wusste wirklich nicht, was man mit dem Fleisch machen könnte. Traurig über ihren Zustand, wurde ihr klar, dass sie über ihren eigenen Schatten springen und Hilfe suchen musste. Johannes hatte ihr einige Male vorgeschlagen, eine Kur zu beantragen und sich zu erholen, denn so etwas hatte sie noch nie gemacht. Nicht nur Johannes, sondern auch ihre Hausärztin hatte ihr ein paarmal vorgeschlagen, dies zu tun. Doch sie weigerte sich. Irene war der Meinung, dass sie ihren Mann und die Kinder nicht alleine lassen durfte. Ihre Antwort lautete:
„Ihr kommt doch ohne mich gar nicht zurecht! Nein, das tue ich euch nicht an!“ Dieses Mal wusste sie aber, dass sie es tun musste, auch wenn sie nicht wollte.
Am Tag darauf hatte Irene von sich aus einen Termin bei einem Psychotherapeuten gemacht und ihn gebeten, eine Kur in Altensteig in der de’ignis-Klinik (Lateinisch: das Feuer) zu beantragen.
Anschließend fuhr sie in Begleitung mit Anni zur Krankenkasse. Sie bekam für drei Wochen eine Bewilligung. Die Krankenkasse hatte alles schnell erledigt, sodass sie in einer Woche schon in der de’ignis-Klinik aufgenommen wurde. Johannes brachte sie mit dem Auto hin.
Als Irene in Altensteig ankam, führte sie ein Gespräch mit dem Arzt, der ihr neun Wochen Kur verschrieb. Dort wurde sie medikamentös behandelt und merkte schon nach zwei Wochen einen Unterschied. Dieses abscheuliche und schreckliche Gefühl, dass sie am Leben war, war vorbei. Nach fünf Wochen merkte sie, dass sie sich wieder konzentrieren konnte. Es ging bergauf. Sie konnte wieder beten und sie wusste, dass er sie hört.
Irene war nur noch von einem Wunsch erfüllt: Es war der glühende Wunsch, wieder gesund zu werden, der in ihrem Unterbewusstsein unauslöschlich brannte, der ihr Denken und Handeln beherrschte. Sie lag dem Herrn in den Ohren, indem sie ein Gebet zig Mal pro Tag betete. Es waren immer die gleichen Worte, die sie zum himmlischen Vater richtete:
„Heile mich! Heile mich! Heile mich! Du weißt, Herr, ich habe eine große Familie und meine Kinder brauchen mich! Mein Mann braucht mich und die Gemeinde, sie brauchen mich auch! Du hast selber gelitten und kannst den Leidenden helfen. Bitte hilf mir!“
Das war das Gebet, das sie jeden Tag mehrmals vor den Herrn brachte. Der eine oder andere würde denken, dass dies überhaupt nicht kreativ sei. Das war es für sie auch nicht. Es war ihr wichtig, dass der Herr ihr Gebet erhört und ihr die Wiederherstellung schenkt.
Während ihrer Spaziergänge hatte sie viel Zeit zum Nachdenken und konnte ihr Leben Revue passieren lassen. Plötzlich fiel ihr ein, wie Michail Gorbatschow einmal sagte:
„Es gibt keine einfachen Lösungen für sehr komplizierte Probleme. Man muss den Faden geduldig entwirren, damit er nicht reißt.“
Nun steckte sie mitten in einem komplizierten Problem. „Wie soll ich nach dem Faden greifen?“, fragte sie sich.
Ihr wurde klar, dass sie viele Fehler in ihrem Leben begangen hatte und dass Weisheit ein Vorteil des Alters ist. Doch in jungen Jahren hackt man viel Kleinholz und entwirrt den Faden nicht geduldig. Bis man darauf kommt, ist man alt. Sie bereute viele Dinge.
Tief in Gedanken versunken, landete sie in der Vergangenheit bei ihrer Mutti. Ihre Beziehung war geprägt von einem erhobenen Zeigefinger: „Du musst … und du sollst nicht …“
Zum Beispiel hatte sie wegen ihr ihre Stöckelschuhe verbrannt oder eine Kopfbedeckung getragen. Sie hatte sich nicht getraut, irgendwelche Fragen zu stellen. Sie fühlte sich allein, denn sie streckte ihr nie ihre helfende Hand entgegen – eine Zuwendung, die ihr in solchen Momenten so fehlte. Obwohl sie schon sechs Kinder hatte, kam immer wieder dieses Gefühl hoch, wie vor der Bekehrung: „Du nichtsnutziges Mädchen!“
Genau das wollte sie nie sein. Sie konnte sich mit dem Volk Israel identifizieren und wie sie es empfunden haben mussten, als Mose vom Berg herunterkam und ihnen die Zehn Gebote vorhielt. Wo sie sich sowieso schon so schmutzig und beladen fühlten und so viel Dreck am Stecken hatten, dann kommt die strenge tiefe Stimme, die sagt: „Du musst … und du sollst nicht …“
Heute hat Irene nicht das geringste Problem mit den Zehn Geboten, ganz im Gegenteil, sie sieht das Wort als Erbauung und findet es über alle Maßen erstaunlich, geradezu unfassbar, wie relevant und lebendig sie geblieben sind. Man darf sie nur nicht so bürokratisch und mechanisiert verstehen, wie sie leider vor allem von den Pharisäern und Schriftgelehrten des Christentums dargestellt worden sind oder noch dargestellt werden.
Sie erinnerte sich mit Unbehagen daran, wie sie sie als Kind auswendig lernen musste und damit auch die Zehn Gebote erst einmal „ausgetrieben“ bekam.
„Du sollst nicht …“ stand da mit erhobenem Zeigefinger und danach kam gleich das Kapitel mit den „Todsünden“.
Dieser erhobene Zeigefinger ist womöglich nie im biblischen Text enthalten gewesen, aber er begleitete sie bis hierher andauernd.
Plötzlich bemerkte sie, dass die Übersetzungen aus dem Althebräischen darauf hinweisen, dass man die Zeitform der Verben nicht nur im Sinne des „Du sollst nicht …!“ verstehen kann, sondern dass man sie auch als Futurum verstehen kann, nämlich als „Du wirst nicht …!“ Und schon erschienen diese Gebote in einem anderen Licht. Im Klartext steht dann da nämlich: Wenn du mich als deinen Gott und Schöpfer begreifst, Mensch, dann wirst du mich ehren. Dann wirst du nicht lügen. Dann wirst du nicht töten. Dann wirst du nicht die Ehe brechen …!
Irene spürte, wie die Gegenwart des Heiligen Geistes sie umgab. Sie war von Herzen dankbar, dass sie ein Kind Gottes war, als sie weiter ihren Gedanken nachhing.
Es war absolut einsichtig: Ein Mensch, der sich vor seinem Schöpfer verneigt und sich von ihm liebevoll be(ob)achtet weiß, braucht in der Tat keine Gebote, sondern erkennt die Folgen dieser Beziehung wie von selbst.
In einer Übersetzung aus dem Aramäischen, welche Jesu Umgangssprache war, heißt es im „Vaterunser“ auch nicht: „Und führe uns nicht in Versuchung …“, sondern: „Du lässt uns nicht in Versuchung geraten …“ Das spürte sie für sich und es war ihr warm ums Herz.
Wie oft weist Paulus in seinen Briefen darauf hin, dass Gott kein strafender und abweisender Gott ist, sondern einer, der uns jederzeit seine Hand ausstreckt. So wie der Vater im Gleichnis vom verlorenen Sohn, der sich körperlich und seelisch schmutzig fühlte, der sein Erbvermögen bis auf den letzten Cent verprasst hatte und mit großer Hoffnung bei ihm ankam und um Vergebung bat. Der Vater kam ihm entgegen. Anders konnte sie die Zehn Gebote nicht verstehen. Sie sah in ihnen nicht die Spielregeln, die uns Gottes „Rote Karte“ einbringen, wenn wir ihnen nicht folgen, sondern sein Versprechen, uns beizustehen, wenn wir ihn als Schöpfer und Herrn anerkennen.
Wer meint, dass das eine unzeitgemäße Haltung im Zeitalter des Internets und dem Zeitalter des Geistes ist, der hat wahrscheinlich Gottvertrauen noch nicht in Erwägung gezogen und traut deswegen entweder nur sich selbst oder den Erfindungen des menschlichen Geistes, was ihres Erachtens so ziemlich auf dasselbe herauskommt.
Damit wollte Irene niemanden abkanzeln und schon gar nicht sich selbst als im Besitz der wahren Erkenntnis hinstellen. Im Gegenteil: Oft ist unsere Erkenntnisfähigkeit beeinträchtigt.
„Eine Nacht vor dem Fernseher, ein Tag mit Zeitschriften und Zeitungen, und ich zweifle an Gott und der Welt“, schrieb der Filmemacher Wim Wenders in einem Artikel aus dem „Stern“.
„Kein Wunder, denn die Welt hat nie etwas anderes im Sinn, als uns Gott unverständlich zu machen. Aber gerade deswegen gilt sein Versprechen umso mehr, jeden Tag aufs Neue“, meinte er weiter.
„Wer suchet, der findet“, sagt die Bibel. Wer die Welt sucht, findet auch nur die Welt. Wer Gott sucht, wird ihn finden. Im Grunde sagen die Zehn Gebote nichts anderes: Wer Gott sucht, dessen Leben geschieht in eben diesen Bahnen, die hier zehnfach definiert werden.
Jetzt noch sind diese Zehn Gebote „Angebote“. Sie sollten eine Grundregel für das Gemeinschaftsleben sein, aber auch eine Grundlage für ein Leben, das man mit gutem Gewissen vor Gott und vor sich selbst führen kann.
Seitdem Irene erlebt hatte, wie verletzt sie war, suchte sie den Ort der Schmerzen auf, den Gott dafür geschaffen hatte. Dieser Ort wurde ihr zur Lebensmitte, das Kreuz, an dem Christus den größten Schmerz getragen hat. Dorthin ging sie mit ihren Schmerzen, gab alles ab und erlebte, was Erlösung heißt. Erlöst zu leben von der Werkkraft eigener Verletzungen und der Schuld anderen gegenüber, die sie auf sich geladen hatte, bedeutete für sie im Blick auf Christus zu leben. Ähnlich wie Petrus, der auf dem stürmischen See auf Jesus zulief. Solange er den Blick auf ihn gerichtet hatte, ging er nicht unter – trotz seiner Ängste. Sobald er auf die hohen Wellen um sich herum sah und Jesus aus dem Blick verlor, sank er.
Irene dachte: „Ich will nicht untergehen, sondern ich will auf Christus hin leben und auf ihn zugehen.“
Wenn es für sie auch schwierig war, ihre Mutter zu verstehen, ist es für sie gewiss, dass sie ihr Bestes geben wollte, sei es in der Erziehung oder auf der Glaubensebene. Sie hatte ihr Bestes, nach ihrem Wissen und Gewissen gegeben, denn sie wusste es nicht anders. Sie war selbst so gesetzlich erzogen worden und konnte nichts dafür.
Es gibt eine Wahrheit, die manchmal ins Lächerliche gezogen wird. Eine junge Frau erzählte, als sie vier Jahre alt war, hatte sie gesagt:
„Meine Mutti ist die Beste. Sie weiß alles und sie kann alles.“
Als sie aber dreizehn Jahre alt wurde, sagte sie: „Meine Mutter hat keine Ahnung, sie handelt wie es ihr gefällt!“
Später mit fünfundzwanzig sagte sie: „Hätte ich bloß auf meine Mutter gehört.“
Da ist was Wahres dran.
Manchmal ertappte Irene sich, denn genau so erging es ihr. Sie will ihre Mutti nicht schlecht machen, aber nicht immer hatte sie ihre Mutter verstanden. Heute weiß sie, auch wenn schon 25 Jahre seit ihrem Tod vergangen sind: Ihre Mutter hatte auf ihre Art und Weise Recht. Sie hatte ihr Bestes gegeben und ein gutes Erbe hinterlassen. Deshalb kann sie immer zurückgreifen auf den Schatz, denn sie mit auf den Weg bekommen hat und davon profitieren. Und tatsächlich, alle diese Jahre träumte Irene fast jede Nacht von ihrer Mutter, sodass sie sie noch nicht vergessen kann.
Abends hatte sie mit Johannes telefoniert und konnte über alles reden, zum Schluss beteten sie miteinander. Immer wenn sie die Selbstmordgedanken überfielen, rief sie bei ihm an und er gebot den Gedanken in Jesu Namen zu gehen. Gott sei Dank erhörte er sie. Zwar hatte sie noch dieses Kribbeln in ihrem ganzen Körper, aber die Abstände wurden länger. Auch die Selbstmordgedanken und die anderen körperlichen Beschwerden nahmen ab. Sie kamen in größeren Abständen und dauerten weniger lang. Irene schrieb den Verlauf in ihrem Tagebuch nieder und konnte es vergleichen. Währenddessen beschäftigte sich Johannes zu Hause mit den Kindern. Er stand jeden Morgen früh auf, machte die Brotdosen für jedes Kind fertig und begleitete sie zur Schule. Das Mittagessen war fertig, wenn sie zurück waren. Er machte alles für sie, sodass ihnen ihre Mutter ja nicht fehlte. Trotz all seiner Bemühungen vermissten die Kinder aber ihre Mutter. An einem Tag bekam Irene von dem ältesten Sohn einen Brief:
„Liebe Mama, Papa macht es sehr gut, er gibt sich ganz viel Mühe, aber er kann dich nicht ersetzen.“
Weinend las Irene diesen Brief und litt fürchterlich unter Heimweh. Gleich darauf hatte sie ihm eine Antwort geschrieben, in der sie ihre Gefühle zum Ausdruck bringen konnte und gleichzeitig den Schmerz über die Abwesenheit der Kinder verarbeiten. Sie hatte sehr viel geschrieben und viel Post bekommen, sodass die Mitpatienten staunten, denn Irene bekam am meisten Briefe. Eine andere sehr gute Ablenkung während des Klinikaufenthalts war spazieren zu gehen, frische Luft zu tanken und abends, wenn sie im Bett lag, zu lesen. Eine interessante Geschichte war ihr in die Hände gefallen, wofür sie Gott von Herzen dankte … auch für die Bewahrung.
Wer in luftiger Höhe auf einem Gerüst arbeitet, darf sich keinen Fehltritt erlauben. Trotzdem ist es passiert: Bei Renovierungsarbeiten am Dach der Kirche verlor ein Arbeiter das Gleichgewicht und stürzte im freien Fall in die Tiefe. Auf dem Rasenplatz befanden sich viele große Grabsteine. Den Aufprall konnte kein Mensch überleben, doch zwischen den Grabsteinen graste ein Lamm. Genau auf dieses Lamm fiel der Mann. Unter der enormen Wucht des Aufpralls wurde das Tier völlig zerquetscht. Der Arbeiter jedoch überlebte den Sturz weitestgehend unverletzt. Obwohl diese Begebenheit inzwischen viele Jahre zurückliegt, ist noch heute an der katholischen Kirche in Werden an der Ruhr ein in Stein gehauenes Lamm zu sehen. Es soll an die wunderbare Rettung des Dachdeckers erinnern.
Der Mann hatte Glück, dass das Lamm zufälligerweise genau dort graste, wo er hinuntergefallen war. Und auch Irene hatte Glück. Das Lamm spielt auch in der Bibel eine wichtige Rolle, denn wir Menschen erlauben uns immer wieder Fehltritte. Wir übertreten die guten Regeln, die Gott uns zum Leben gegeben hat. Solche Übertretungen bringen uns in diesem Leben oft genug aus dem Gleichgewicht. Vor allem aber versperren sie uns den Zugang in den Himmel und lassen uns für ewig verloren gehen. Doch Gott will uns nicht fallen lassen. Weil er uns liebt, bietet er uns durch das Lamm Rettung an. Bereits im Alten Testament hat Gott das Prinzip des stellvertretenden Opferlammes eingeführt. Anstatt des schuldigen Sünders stirbt ein unschuldiges Lamm. Dann ist Jesus Christus als das Lamm Gottes auf die Welt gekommen, um am Kreuz ein für alle Mal stellvertretend für unsere Übertretungen zu bezahlen.
Bist bereit, ihm zu vertrauen und dich von ihm retten zu lassen? „Ist das nicht merkwürdig, dass ausgerechnet ich zu dieser Zeit diese Geschichte in die Hand bekomme?“, fragte Irene sich. Die Geschichte gab ihr neue Kraft zu vertrauen und sie war sehr dankbar, dass der Herr sie vor diesen massiven Selbstmordgedanken beschützt und gerettet hatte.
Bestimmt hätte vor dem Baum, den sie sich ausgesucht hatte, um dagegen zu fahren, auch ein weißes Lamm gegrast. „Danke Herr!“, flüsterte sie, während sie das Buch zuschlug.
Nach fünf langen Wochen machte sich Johannes auf den Weg, um Irene zu besuchen. Sie hatte ein Hotel gebucht, in dem sie beide übernachten würden, denn in der Klinik war nichts frei und er hatte einen über siebenhundert Kilometer langen Weg hinter sich. Leise ging er die Treppe hoch, als er plötzlich vor ihrem Zimmer stand. Irene saß am Fenster und las ein Buch. Als sie das Klopfen an der Tür hörte, stand sie auf, um zu öffnen.
Währenddessen fielen ihr interessanterweise Assoziationen aus der Vergangenheit ein, als sie noch ein elfjähriges Mädchen war. Es war Herbst und kalt. Das ganze Laub von den Bäumen war längst heruntergefallen und nachts gab es schon Bodenfrost. Es klopfte an der Haustür, sie stand auf und öffnete. Vor ihr stand eine kleine und zierliche Frau aus Japan. Sie war auf der Flucht und wollte sich scheinbar irgendwo in der Gegend niederlassen.
Rasch rief Irene ihre Mutter. Als Alwina die ausgehungerte Frau sah, lud sie sie gleich in ihr Haus ein, während sie ihr den Stuhl in der Küche zeigte, auf dem sie Platz nehmen konnte. Sie kamen ins Gespräch, doch die kleine, zierliche Frau konnte kein Russisch. Sie hob ihren Rock hoch und zeigte eine zehn Zentimeter breite, dicke braune Kruste auf ihrem Oberschenkel, die wie Schwarzbrot aussah. Alwina wusste sofort, dass es die Folgen der Atombombe gewesen waren, die die Amerikaner auf Hiroshima und Nagasaki abgeworfen hatten. Die Japanerin fuchtelte mit ihren kleinen Händen und versuchte ihnen zu verstehen zu geben, dass sie hungrig sei und Geld bräuchte.
„Schnell, bring Wasser!“, befahl Alwina.
Irene packte den Eimer und ging zum Brunnen. Als sie zurück war, hatte ihre Mutter schon den Trog hingestellt und mit heißem Wasser gefüllt, das auf dem Ofen in einem großen Topf stand und zum Geschirrspülen oder für die Handwäsche genutzt wurde. Die Japanerin stand im Unterhemd daneben. Als sie ihr Unterhemd auszog, war ihr ganzer Körper mit solchen riesigen Wunden befallen, die braune Krusten bildeten. Alwina hatte der Frau geholfen sich zu baden. Sie gab ihr ein sauberes Unterhemd aus ihrem Schrank sowie warme lange Strümpfe, die sie selber gestrickt hatte, und eine Strickjacke, die natürlich viel zu groß ausfiel, obwohl Alwina selber sehr dünn war. Anschließend füllte Alwina einen Teller mit heißer Suppe und stellte reichlich Brot auf den Tisch. Während die Frau sich auf das Essen stürzte, hatte Alwina ihre alten zerlumpten Klamotten in den Ofen geworfen, wo sie schnell Feuer fingen und im Nu verbrannten. Irene verfolgte dieses Szenario. Sie erschrak, versuchte aber es nicht zu zeigen, denn die arme Frau hatte ihr sehr leidgetan.
Nun stand sie wieder vor der Tür und öffnete sie. Als sie nach so einem Paradigmenwechsel Johannes vor sich sah, schrie sie vor Freude auf. Die beiden umarmten sich vor Sehnsucht. Irene konnte sich nicht beherrschen, die Tränen liefen ihr die Wangen runter, während sie sich an ihren Mann schmiegte.
Lange Zeit standen die beiden schweigend da, bis Johannes die Stille unterbrach.
„Du siehst gut aus! Lass dich ansehen“, sagte er, während er sie vorsichtig von sich wegdrückte.
„Komm, nimm Platz“, lud sie ihn endlich ein.
Lange schauten sie sich schweigend an.
„Sie ist fast noch schöner“, dachte er, „als ich sie in Erinnerung habe.“
Er betrachtete ihr Gesicht, ihre Augen. Sie war weiblicher geworden, eine Frau, sanft und mit Gefühl für andere, wie es nur durch eigenes schweres Leid entsteht.
„Du siehst wirklich besser aus als vor fünf Wochen, als ich dich zum letzten Mal gesehen habe!“, sagte er.
„Danke!“, erwiderte sie. Irene hatte sich wieder gepflegt, sich geschminkt und hübsch gemacht. Zu dieser Zeit hatte sie wieder Lust für die schönen Sachen. Das war ein Beweis, dass sie auf dem Weg der Besserung war.
„Wie geht es den Kindern?“, fragte sie, obwohl sie die ganze Zeit jedem von ihren Kindern separat Briefe geschrieben hatte, die sie bis heute aufgehoben hat. So hielt sie den Kontakt zu ihnen aufrecht. Trotzdem wollte sie es von Johannes wissen. Sie wollte alles wissen, ihr Interesse fürs Leben war wieder erwacht.
„Sie kommt ins Leben zurück“, freute sich Johannes und beruhigte sie, dass alles in bester Ordnung sei.
Bevor er sich auf den Weg zu ihr machen wollte, telefonierten die beiden. Irene hatte ihn gebeten: „Bitte bring keine Kinder mit, sonst kann ich die restliche Zeit hier ohne sie nicht mehr ertragen!“ Deswegen kam er allein.
„Wie geht es dir? Erzähl mir lieber von dir!“, sagte Johannes. Sie schaute zum Boden und schwieg, nach einiger Zeit hob sie ihren Blick und schaute ihm direkt in die Augen.
„Es war sehr schlimm, ich kann es dir nicht beschreiben“, sagte sie.
„Ich möchte mich auch nicht mehr daran erinnern, wenn man sich Tag und Nacht in einem dichten Nebel befindet und nicht raus kann – fürchterlich!“, fügte sie mit zitternden Lippen hinzu.
Ihre Stimme wurde plötzlich ruhig und fest. Sie versuchte sich zu beherrschen …
Ihre innere Tür war aufgesprungen und die stumme Qual fand den Weg ins Freie. Sie hielt ihre Hände vor ihr Gesicht und bemühte sich, sich nicht mehr an die Vergangenheit zu erinnern. Nach einer Weile trocknete sie ihre Augen ab und sagte:
„Nun, ich merke, dass es Schritt für Schritt besser wird. Leider dauert es für mich alles viel zu lang, aber ich freue mich, dass ich aus dem finsteren Tal fast raus bin.“
Die kurze Zeit miteinander verflog viel zu schnell, aber sie hatte den beiden gutgetan.
Nach dem Besuch von Johannes zählte Irene die Tage und wollte so schnell wie möglich nach Hause. Nach acht Wochen hatte sie mit ihrem Arzt gesprochen und er hatte es bewilligt. Johannes holte sie ab. Als sie zu Hause ankamen, schien es ihr, als ob sie ihre Kinder nicht wiedererkennen würde. Sie hatten sich verändert und waren gewachsen. Sehnsüchtig drückte sie jedes Kind an sich. Die Freude war auf beiden Seiten sehr groß. Irene war froh, wieder zu Hause bei ihren Kindern zu sein und die Kinder waren froh ihre Mutter wieder zu haben. Nach der herzlichen Begrüßung öffnete Irene langsam die Schlafzimmertür, um ihren Koffer abzustellen, als sie in Staunen versetzt wurde. Die Kinder hatten das Zimmer mit Luftballons und Blumen geschmückt. Sie war entzückt, wohingegen Johannes die vielen Blumen an die Beerdigung seiner Mutter erinnerten, die er noch nicht verdaut hatte.
Das Haus war blitzblank geputzt und aufgeräumt. Mit einer großen Wertschätzung wurde sie empfangen. Die Kinder merkten, dass sich ihre Mutter verändert hatte und dass sie wieder gut aussah. Irene hatte sich geschminkt und sah wieder gepflegt aus wie früher. Mit dem „Wracksein“ war es vorbei.
Die Kinder wünschten sich verschiedene Gerichte zum Essen, denn Johannes hatte zwar in dieser Zeit Kochen gelernt, aber nur sehr einseitig. Irene legte eine Menüliste aus und die Kinder durften ihren Essenswunsch eintragen. Der Reihe nach hatte sie ihnen die Wünsche erfüllt. Johannes hatte Urlaub genommen und blieb zwei Wochen zu Hause, um ihr zur Hand zu gehen, bis sie sich wieder eingelebt hatte. Er war mit Irene einkaufen gefahren, hatte ihr mit dem großen Berg Wäsche geholfen, hatte jeden Tag Staub gesaugt und als die Kinder in der Schule waren, half er ihr in der Küche. So langsam konnte Irene nach ihrer Erschöpfungsdepression den Horizont sehen.
In all den Jahren haben die beiden gelernt, wie sie miteinander umgehen sollen, wenn es ihnen gut ging, genauso in Zeiten von Not und Leid einander zu schätzen, zu lieben und zu respektieren. Miteinander über alles reden, dieses Versprechen, das sie sich zum zweiten Mal gaben, versuchten sie täglich einzuhalten. Sie wollten keine Geheimnisse voreinander haben, egal wie groß oder klein das Problem erscheinen mag.
Irene fing an, ihm das Geschehene zu erzählen und der ungelöste Knoten, der all die Jahre in ihr verborgen lag, wurde gelöst. Denn damals als sie die erste Depression hatte, hatte sie sehr darunter gelitten, dass sie ihm nichts erzählen durfte. Aufgrund der Glaubensverschiedenheit herrschte oft Disharmonie. Wo eigentlich viele Fragen da waren und wo man sehr vieles besprechen musste, konnten sie es aber nicht.
Nun, jetzt ging es ihr gleich ein Stückchen besser, weil sie über alles reden konnte.
Wo immer es möglich ist, etwas von seinen Gefühlen zu äußern, sollte man dies tun. Gefühle, die man nicht an Ort und Stelle äußern kann, verbleiben als „unerledigte Geschäfte“ im Seelenkontor und warten darauf, in einem Nachgespräch befreit und bearbeitet zu werden. Andernfalls „verklumpen“ sie und liegen als seelische Knoten im „Bauch“ und nehmen dort viel Kraft in Anspruch. Gut, dass wir als Christen einen Vater im Himmel haben. Bei Gott bleibt kein ungelöster Knoten, bevor er einen weiterführen kann.
Gott löst alles, Satan hat kein Recht und man kann sich frei im Geist fühlen. Einen Augenblick hielt Irene inne und musste an einen Spruch von Rainer Maria Rilke denken:
„Wolle nie irgendeine Beunruhigung, irgendein Weh, irgendeine Schwermut von deinem Leben ausschließen, da du doch nicht weißt, was diese Zustände an dir arbeiten!“
In dieser Welt werden wir Christen von Leid und Trauer nicht verschont. Allerdings wissen wir uns getragen von unserem Herrn und Gott, der dies eben alles zulässt, aber auch die Kraft schenkt, es tragen zu können. Wir haben das anzunehmen und zu akzeptieren, „denn denen, die Gott lieben, müssen alle Dinge zum Besten dienen“.
Durch diese Erfahrungen kommen wir mit Menschen in Verbindung, die Ähnliches erfahren haben.
Sehr bald merkte Irene, dass solche Leute mehr barmherzige Zuwendung brauchen als besserwisserische verletzende Kritik.
Eins ist ihr doch noch ganz wichtig geworden, was sie sich immer wieder gefragt hatte: „Warum? Warum müssen die Menschen Leid erdulden? Warum, o Herr?“ Emotional stand sie wieder auf der Hängebrücke, die über der tiefen Schlucht hing.
„O Herr, warum?“, fragte sie nur leise, bis ihr ein kleines Heftchen von einem Missionswerk in die Hände fiel. Sie konnte sich so richtig damit identifizieren.
„Weißt du, warum du so manche Wüstenstrecke zu durchlaufen hast? Warum deine körperlichen Anfechtungen dich manchmal so hart bedrängen dürfen, dass sie dir den Frieden Gottes streitig machen können?
Warum der Herr es zulässt, dass innere und äußere Schwierigkeiten so manches Mal übermächtig zu werden drohen? Warum deine Freude gestern und heute dem glimmenden Docht gleicht, von dem Jesaja geredet hat? Warum du oft so müde bist, abgespannt? Weißt du, warum das alles so ist? Der Herr Jesus liebt dich so sehr, dass er dich zu einem Beispiel für die Macht seiner Gnade werden lassen will. Du sollst, indem du dir an seiner Gnade genügen lässt – die Herrlichkeit eben dieser Gnade erfahren, die ,in den Schwachen mächtig‘ ist. Wir sollen doch ,zum Preise der Herrlichkeit seiner Gnade‘ sein. Er selbst will aus dir hervorstrahlen.“
Einerseits fühlte Irene, dass sie auf alle ihre Fragen eine Antwort bekam. Andererseits dachte sie, muss es, Herr, so fürchterlich und schmerzhaft sein?
Es war Frühling, der warme Südwind brachte alles in Bewegung, die Sonne kam heraus und der Schnee schmolz weg. Die Bäche stiegen über ihre Ufer, stürzten schäumend durch das Tal und setzten die Wiesen halb unter Wasser. Irene war froh, wieder in ihrem Garten zu sein. Säen, zuschauen wie es wächst und ernten – das alles liebte sie sehr. Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte und das Wort wurde ihr bewusst: „Was der Mensch sät, wird er ernten.“
Sie konnte es wieder sehen und staunte, wie wunderschön es ist, wenn die Natur erwacht. Die Bäume wurden langsam grün. Die Tulpen, Krokusse und Narzissen, auch als Osterglocken bekannt, sprossen aus der Erde in ihrem Vorgarten. Wenn der Frühling im Anflug war, würde bald das Pflügen und Säen wieder beginnen und die Störche aus südlichen Ländern zurückkehren. Da Irene ein introvertierter Mensch ist, genießt sie die Natur im Frühjahr besonders und muss mit Erstaunen feststellen, wie wunderbar unser Gott alles erschaffen hat. Es geht ihr gut auf dieser Erde, sie ist ihm dafür aus ganzem Herzen dankbar.
Sie stand da und genoss die frische Luft, als ihr der Gedanke kam: Das Säen und Ernten verbindet sie mit ihrer Jugendzeit. Sie dachte an den jugendlichen Leichtsinn, an alles was man hätte besser machen können. Dazu gehörte auch, die Eltern für eigenes Fehlverhalten in früher Jugend zu beschuldigen. Wie schnell sagt man, dass die Umwelt so kalt, so lieblos ist und die Menschen so rücksichtslos, egoistisch und gleichgültig sind. Dabei vergaß sie sich zu fragen, wie sie in ihrer eigenen Jugend war.
Aus diesem Grund tat sie sich heute manchmal selbst leid, weil sie sich daran erinnern musste, was sie später von ihren Kindern ernten wird.
Das Naturgesetz von Saat und Ernte sollte sich jeder vergegenwärtigen:
Als jüngere Frau war ihr das nicht bewusst. Jedes Wort, jede Tat ist Saat! Diese ist gut oder schlecht. Ihr Verhalten ihren Eltern gegenüber ist eine Saat. Die entsprechende Ernte wird sie eines Tages von ihren Kindern bekommen.
Bosheit und Ungerechtigkeit ist die Saat, die sich in der Erde vervielfältigt. Im Vergleich zum guten Samen vervielfältigt sich Unkraut noch viel mehr. Wer Hass, Ehebruch, Hurerei, Gewalt und Mord nicht will, darf diese Dinge selbst in seinen eigenen Vorstellungen nicht lieben, pflegen, geschweige denn erlauben.
Natürlich säen wir auch guten Samen. Positive Gespräche mit Kindern, Bekannten oder Kollegen, die dabei die richtige Sicht entwickeln, sind gute Samen.
Jesus kam und erntete von unserem Acker „Kraut und Rüben“, die Saat von Hass, Neid, Schmerz, Verachtung und Tod. Er hat die Ernte unserer menschlichen Aussaat auf sich genommen. Er dagegen lädt uns ein, die Ernte seines Lebens einzuholen – Frieden, Vergebung, Heilung und ewiges Leben.
Lass Jesus deinen Acker abernten, lebe du sein Wort aus, sodass wir Schätze im Himmel sammeln können!
Auch nach der Kur, als Irene wieder zu Hause war, kamen die Angstzustände immer mal wieder, aber in größeren Abständen. Mehrmals täglich lag sie dem Herrn in den Ohren, dass es doch geschehen möge:
„Herr, verlass mich nicht, mein Gott, bleib nicht fern von mir! Komm und hilf mir schnell! Du bist doch mein Herr und mein Retter!“
Und plötzlich merkte Irene, dass die schwarzen Wolken wegzogen und die Sonne langsam sichtbar wurde. Es war wie bei der jüdischen Frau, als der Rabbi ihr seine Hand auf den Kopf legte und fragte:
„Kind, kennst du das Geheimnis unseres Volkes nicht? Das Geheimnis Israels ist das Geheimnis des Roten Meeres. Es gibt keinen Weg um das Meer herum, keinen Weg, weder darüber noch darunter, herzukommen. Der Weg Gottes führt mitten durch das Rote Meer hindurch. Und nun leg deine Hand in Gottes Hand, meine Tochter, und dann geh in das Wasser hinein. Du wirst staunend erleben, dass es zurückweicht! Und das Wunder geschah! Die Frau wurde still und die irre Angst fiel von ihr ab.“
So ähnlich ging es Irene. Nach zwei langen Jahren der Dunkelheit brach der Tag in Irenes Leben hinein und die Hängebrücke, auf der sie sich immer noch befand, wurde von dem Tageslicht erhellt. Plötzlich sah die Brücke nicht mehr so schrecklich aus und durch das helle Licht konnte sie sehen, wohin sie treten durfte.
Auch Jesus musste den Weg durch das Rote Meer gehen. Gott hat ihn nicht vor dem Leiden bewahrt, aber in dem Leiden! Und schließlich hat er ihn erlöst. So musste auch Irene durch das Rote Meer gehen, aber Gott war mitgegangen und hatte sie hindurchgebracht. Er hat uns den „Schlüssel zum Herzen der Menschen“ gegeben, in Liebe und Demut einander anzunehmen.
Was Irene heute bitter bereut und sie traurig über sich selbst macht, ist das Einander- etwas-beweisen-Müssen. Nein, das wollte sie nicht mehr. Sie war froh und dankbar, dass Jesus sie durch diese Feuerprobe durchgebracht hatte. Sie war willig, einen Tag nach dem anderen zu leben, mit dem Wissen, dass die Zukunft in seiner Hand lag.
Heute kann sie sagen, dass über ihrer Genesung die wunderwirkende Kraft des Herrn lag. Sie kann zum Ausdruck bringen und bezeugen, was sie von Gottes Verheißungen erhalten hat, denn die Bibel ist voller Verheißungen. Der Friede Gottes herrschte erneut unangefochten in ihrem Leben. Sie war aus ihrem persönlichen Feuerofen hervorgegangen mit neuem Glauben an die Kraft und Liebe Gottes und sie betrachtete es nicht als selbstverständlich, von dieser Krankheit geheilt worden zu sein. Ihre Ehe wurde tiefer und intensiver. Sie empfanden diese tiefere Wertschätzung, Liebe und Zärtlichkeit füreinander und für ihre Kinder, was nur der erleben kann, der dem Tod ins Angesicht geschaut hat.
Es war ihr wichtig, darüber nachzudenken, was in der vergangenen Zeit alles geschehen war. Sie sah, wie Gott durch diese Depression ihren Charakter verändert und weiterentwickelt hatte. Die Krönung ihrer Ehe war ein Gefühl der Zufriedenheit und des Wohlbefindens, das nur diejenigen Paare erleben, deren Beziehung gereift ist und die die Wechselfälle des Lebens gemeinsam überstanden haben. Sie freute sich immer wieder neu über die Güte Gottes und den Segen auf ihrer ganzen Familie.
Manch einer fürchtet sich vor einer Depression und meint, damit würde er nicht fertigwerden, denn Leben ist wie ein riesiges Feld, nicht immer ist es leicht zu überqueren. Das ist wahr, aber Irene kann bezeugen, dass Jesus bei jedem Schritt des Weges da ist und mitgeht, wenn man das Gefühl hat, man stünde allein. Es ist fürchterlich, nur daran zu denken, aber es ist ihr bewusst, dass manche Christen ihre Depression nicht loswerden können. Doch Irene kann aus ihrer eigenen Erfahrung sagen, dass Jesus viele wiederhergestellt hat – zu wunderbarer, vollkommener Gesundheit. Ihm allein sei die Ehre! Natürlich versucht der Satan den Kampf zu gewinnen, bevor wir ihn begonnen haben. Heute kann sie die Leute, die durch das finstere Tal gehen, sehr gut verstehen und ihnen mit einem guten Rat zur Seite stehen. Sie sieht solche Menschen mit anderen Augen. Irene hat ein Herz für sie und kann ganz anders im Gebet für sie eintreten.
Nach zwei langen Jahren der Dunkelheit brach der Tag in ihr Leben hinein und die Hängebrücke wurde zu einem festen Weg, der durch das Tageslicht erhellt wurde. Trotz der hellen Tage in ihrem Inneren, war sie noch nicht so belastbar wie früher.
So betete sie: „Jeder Tag hat seine Sorgen und Last genug.“
Sie vertraute dem Herrn und ihre Kraft reichte für jeden Tag. Am nächsten Morgen betete sie das Gleiche.
Sie hatte es gestern mithilfe des Herrn geschafft zu leben und auf ihn zu vertrauen. Sie hatte ihre Arbeit gestern geschafft, also schaffte sie es auch heute. So lebte sie jeden Tag in der Erwartung des Guten und Besten und dass morgen ein neuer und verheißungsvoller Tag auf sie wartete. Selbst wenn das Leben an dunklen Tagen eine Tür sanft schließt, konnte sie eine andere Tür hoffnungsvoll öffnen.
Irene war schon manche Wege gegangen, aber sie weiß mit Bestimmtheit: dieser war der schlimmste. Wir müssen alle einmal geläutert werden, jeder auf seine Art und Weise. Der Herr möchte uns läutern, aus welchen Gründen auch immer. Er hat uns nie den steinlosen Weg verheißen. Er sagte nur: „Ich bin immer bei euch, bis an das Weltende.“
Sie spürte wie der Herr zu ihr sprach, merkte, dass sie eine Antwort auf ihre Fragen bekam. Plötzlich wurde es warm um ihr Herz, sie fühlte sich angenommen.
Sie konnte zwischen den Zeilen lesen: Unterzeichnet! Herzlichst, Dein Jesus.
Sie hätte sich nie vorstellen können, welche Kräfte sie aus dem Glauben schöpfen konnte. Ihr Glaube war in der schwierigen Zeit gewachsen und viel stärker geworden.
„Gott trägt durch“ – dieser Glaubenssatz wurde wirklich erst auf die Probe gestellt, als es „so weit war“. Sie hatte erfahren, dass sie wirklich nie etwas aushalten musste, was über ihre Kräfte ging. Was hatte sie für eine Angst vor solch einer Situation? Das kann sich keiner vorstellen. Aber nach dieser zweijährigen Leidenszeit merkte sie, dass sie mehr und mehr die Gemeinschaft mit Gott brauchte. Sie las viel intensiver in der Bibel und suchte nach mehr.
„Sorgt euch nicht!“ Jesu Botschaften wie diese bekamen eine ganz neue Bedeutung. Ihr Herz klopfte aufgeregt, ihr Atem wurde für eine kurze Zeit schneller. Sie wusste, was sie zu tun hatte. Als sie sich innerlich beruhigt hatte, holte sie tief Luft, fühlte sich wieder von Gott getragen, auch an Tagen, an denen sie keinen Ausweg wusste und keine Hoffnung hatte. Es schien ihr, als ob ihr jemand ins Ohr flüsterte:
„Du brauchst nicht einmal auf die Klinke zu drücken: Gottes Türen sind nur angelehnt.“
Dieser Bericht ist ein Auszug aus Irenes Buch „Die unsichtbare Feder“.