Wer sich eingerichtet hat, der richtet nichts mehr aus

Warum Stillstand in der persönlichen Entwicklung ein Risiko ist

von Johannes Justus

Wer seine Träume verwirklichen möchte, muss bereit sein, sich stetig weiterzuentwickeln. Dieser Grundsatz gilt besonders für Führungspersönlichkeiten, die in ihrer Position Veränderungen bewirken wollen. Doch viele geraten in die Falle des Stillstands und stellen fest, dass ihre Kirche oder Organisation stagniert oder sogar schwindet.

„Wer sich im Leben eingerichtet hat, richtet nichts mehr aus.“

Ich habe dieses bekannte und verbreitete Zitat etwas abgeändert und ein „aus“ statt einem „an“ eingesetzt. So bringt es die vorhergehenden Gedanken etwas deutlicher zur Geltung. Menschen, die sich zur Ruhe gesetzt haben und sich mit dem Status quo zufriedengeben, erreichen im Leben nicht mehr sonderlich viel.

Der Schmerz des Abschwungs

Es gibt eine beträchtliche Zahl an Pastorenkollegen, die diese schmerzhafte Erfahrung machen mussten. Wieso ist diese Erfahrung schmerzhaft? Das Leben ist im stetigen Fluss und die Umstände und Menschen in der eigenen Umgebung verändern sich. Führungspersönlichkeiten, die glauben, „es geschafft zu haben“, arbeiten nicht mehr an sich, weder an ihren Fähigkeiten noch an ihrer Bildung. Die Folge ist, dass sich andere Menschen von ihnen irgendwann nicht mehr führen lassen, denn sie erwecken nicht mehr den Eindruck, Menschen noch „zu neuen Ufern“ oder „in die Erkenntnis Christi“ führen zu können. Ihr Predigtstil bleibt derselbe, ebenso die theologischen Inhalte. Ihre Methoden und Werkzeuge scheinen erschöpft zu sein und mehr Gemeindeentwicklung wird von den Gemeindemitgliedern nicht mehr erwartet. Die Folge ist, dass besonders mutige und initiative Persönlichkeiten sich aus der Kirchengemeinde zurückziehen, während stetige Persönlichkeiten zurückbleiben, die ebenfalls am Bestehenden und Bekannten festhalten. In manchen Fällen sind auch die Beziehungen der Leiter zu ihren Mitmenschen erschöpft. Dies ist nichts Tragisches und kann in der zwischenmenschlichen Zusammenarbeit durchaus vorkommen, daher ist in vielen Kirchen auch ein regelmäßiger Stellenwechsel vorgeschrieben.

Wenn nun eine Kirchengemeinde sich derart entwickelt, ist ihr Abschwung in Gang gesetzt. Wenn es dem Leiter mit seinem Team nach einer Weile nicht gelingt, einen neuen Aufschwung zu schaffen, tritt das langsame Sterben der Kirchengemeinde ein. Dieser ist sehr schmerzhaft für alle Beteiligten, da immer mehr Mitarbeiter fehlen, die Arbeitslast auf Einzelne übertragen wird und den alten Zeiten nur noch nachgetrauert werden kann. Wenn der Leiter oder Pastor nicht vorher schon entlassen wurde, wird er häufig in dieser Phase verabschiedet, sei es von dem Kirchenvorstand oder einer übergeordneten Instanz. Manchmal gelingt dies größtenteils reibungslos, doch häufig wird er auch buchstäblich vom Hof gejagt.

Stagnation, eine der größten Gefahren in der Führung

Leider habe ich schon zahlreiche Persönlichkeiten erlebt, die selbst hier das Feld nicht geräumt haben und bis zur Auflösung ihrer Gemeinde in ihrer Position verharrten. Wenn dann die Gemeinde aufgelöst wurde, ist das Vertrauen in den Leiter vollends verlorengegangen und niemand möchte ihm noch einmal so richtig eine Leitungsverantwortung übertragen. Bei allen Beteiligten steht dann irgendwann die Warum-Frage im Raum. Woran hat es gelegen? „Womöglich war er nicht berufen oder er war nicht begabt genug.“ Diesen Gedanken werden wohl die meisten laut aussprechen. Meiner Erfahrung nach liegt es jedoch nicht unbedingt daran, sondern in sehr vielen Fällen einfach an der Tatsache, dass die betreffenden Leiter in ihrer Entwicklung stehen geblieben sind. Aus meiner Sicht ist dies eine der größten Gefahren für Führungspersönlichkeiten.

Nach einem meiner Vorträge kam ein Leiter zu mir und teilte mir mit, dass er in meinem Vortrag nichts sonderlich Neues gehört habe. Generell höre er wenig Neues in Vorträgen. Ich musste ihm erklären, dass häufig das Wissen eines der größten Hindernisse für die persönliche Entwicklung ist. Besser gesagt ist es die Annahme, man würde viel wissen, aber das sagte ich ihm so nicht. Er fragte natürlich, was ich genau meine. Ich erklärte ihm, dass man bei Vorträgen nicht das Gehörte mit dem bereits Gehörten abgleichen, sondern sich die Frage stellen solle, ob man das Gehörte bereits anwendet oder umsetzt. Menschen, die glauben, bereits alles gehört zu haben, tendieren dazu, in ihrer Entwicklung stehen zu bleiben. Schließlich glauben sie ja, bereits unheimlich viel zu wissen, doch das Leben verändert sich in einer rasenden Geschwindigkeit. Was gestern noch als wahr galt, kann morgen schon überholt sein.  Ähnlich verhält es sich mit der persönlichen Entwicklung eines Menschen. Wer glaubt, dass sie abgeschlossen sei, der irrt sich gewaltig, denn das ist sie nie ganz.

Die Weisheit des lebenslangen Lernens

In dem Kontext, aus dem ich stamme, wurde früher gerne das Alter als Ausrede bzw. Grund angeführt für jedes Unvermögen, Neues zu erlernen oder neue Herausforderungen anzugehen. Doch lehrt die Wissenschaft, dass die kognitiven Ressourcen komplex sind und nicht in ihrer Gesamtheit abnehmen.

In der Intelligenztheorie von Raymond Cattell wird die Intelligenz des Menschen in zwei Komponenten geteilt. Sie besteht zum einen aus der fluiden Mechanik (fluide Intelligenz) und zum anderen aus der kristallisierten Pragmatik (kristalline Intelligenz).

Die fluide Intelligenz umfasst das Grundfähigkeiten des Gehirns, wie z. B. logisches und analytisches Denken und grundlegende Prozesse der Informationsverarbeitung. Über sie sprechen wir, wenn wir von der Auffassungsgabe oder dem Auffassungstempo sprechen. In der folgenden Abbildung ist dargestellt, dass die fluide Intelligenz über die Dauer des Lebens ab dem mittleren Erwachsenenalter kontinuierlich zurückgeht. Das Lernen und das Denken braucht mit dem zunehmenden Alter also theoretisch immer mehr Zeit.

Die kristalline Intelligenz hingegen umfasst das Wissen, welches sich der Mensch im Laufe des Lebens aneignet. Dazu gehört z. B. die erlernte Sprache, die Allgemeinbildung oder auch erlernte Fähigkeiten wie die berufliche Expertise. Anders als die fluide Intelligenz erfährt die kristalline Intelligenz keinen Rückgang im Laufe des Lebens. Sie kann bis in das hohe Alter stabil bleiben. Daher spricht man von ihr auch gerne als „Altersweisheit“. Sie nimmt mit neu erlerntem Wissen und den gemachten Erfahrungen weiterhin zu.

 

Die Dynamik der Intelligenz

Diese beiden Komponenten der Intelligenz dürfen nicht voneinander getrennt gesehen werden. Sie sind miteinander verwoben und üben gegenseitig Einfluss aufeinander aus. Das bedeutet, dass die Defizite, die sich im Alter in der fluiden Intelligenz bilden, durch die kristalline Intelligenz ausgeglichen werden können. Die kognitiven Fähigkeiten können also bis ins hohe Alter einen hohen Durchschnittswert behalten und der Mensch kann noch lange eine gute „Allgemeinintelligenz“ besitzen.

Natürlich muss ich hier auch erwähnen, dass das Gehirn nach dem neuesten Stand der Forschung wie ein Muskel trainiert werden kann. Man hat also selbst Einfluss darauf, in welchem Zustand die kognitiven Fähigkeiten im zunehmenden Alter bleiben. Dies zeigen mehrere Studien. Bereits in den 90er Jahren wurden die Gehirne eineiiger Zwillinge anhand von Messungen rekonstruiert. Man erwartete große Ähnlichkeiten. Jedoch musste man feststellen, dass sie sich wesentlich voneinander unterschieden, obwohl die Probanden als genetische Klone bezeichnet werden könnten und so ziemlich unter denselben Bedingungen heranwuchsen . Die Gründe für die Unterschiede mussten also nichtgenetischer Natur sein. Neuere Forschungen konnten diesen Schluss bestätigen und gegenwärtig gibt es einen wissenschaftlichen Konsens darüber, dass das Gehirn formbar bzw. „plastisch“ ist.

Man spricht bei dieser anatomischen Formbarkeit daher von „Neuroplastizität“. Das Gehirn ist schlicht und einfach in der Lage, sich anzupassen. Es kann sogar wie ein Muskel an Masse zunehmen oder aber bei geringer Betätigung an Masse verlieren. Jedes Gehirn ist unterschiedlich und das macht jeden Menschen einzigartig. Doch viel wichtiger ist, sich vor Augen zu halten, dass das Gehirn nichts Statisches und Unveränderbares ist. Wie auch der Rest des Körpers kann es trainiert werden und zu höheren Leistungen gelangen.

Es gilt daher, sich lebenslang weiterzuentwickeln, damit man aktiv am Lebensgeschehen teilnehmen kann. Trotz Alterungsprozessen bleibt der eigene Habitus in der eigenen Hand und man kann das Beste aus ihm machen.

Mehr über die Entwicklung kannst du in meinem Buch „Von Sackgassen und Königswegen“ lesen:

 

 

Quellen:

Jäncke, Lutz: Selbst ist das Hirn, in: Spektrum der Wissenschaft Kompakt
(01.21). Heidelberg. 2021.

Rindermann, Heiner: Intelligenzwachstum in Kindheit und Jugend, in: Psychologie
in Erziehung und Unterricht. München. 2011.

Ericsson, K. Anders / Pool, Robert: Top. Die neue Wissenschaft vom
Lernen. München. 2016.

 

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