Warum das Christentum immer bedeutungsloser wird

von Daniel Justus

In den Freikirchen hat man lange auf eine „Erweckung“ gehofft und hofft es immer noch, aber inzwischen müssen auch immer mehr Freikirchler feststellen, dass die Gottesdienstbesucherzahlen in fast allen westeuropäischen Ländern rückläufig sind. Pfingstkirchen wie der Bund Freikirchlicher Pfingstgemeinden in Deutschland verzeichnen zwar jährlich leichte Mitgliederzuwächse, doch sind diese im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung verschwindend gering und vermögen keine wirkliche Gegenbewegung zum fortschreitenden Säkularisierungsprozess in Deutschland und Westeuropa zu bilden.

 

Die Evangelische Kirche halbiert sich

Die Evangelische Kirche in Deutschland hat sich bereits damit abgefunden, dass sie im Jahr 2060 nur noch etwa halb so viele Mitglieder (10,5 Mio.) haben wird wie im Jahr 2017 (21,5 Mio.).  Betrachtet man jedoch die Mitgliederentwicklung der letzten vier Jahre, kann man zu dem Schluss kommen, dass es bis zur Halbierung gar nicht mehr so lange dauern wird, denn die Austrittszahlen waren zuletzt auffallend hoch. Ende letzten Jahres zählte die EKD nur noch 19,15 Millionen Mitglieder.

 

Andere Kirchen machen es ihr gleich

So geht es nicht nur der EKD, sondern eigentlich fast allen großen Kirchen in Europa. Fast alle verzeichnen einen Rückgang der Gottesdienstbesucher. Mit Ausnahme von Portugal ist in allen westeuropäischen Ländern die Zahl der Menschen, die noch einer Kirche angehören, in den letzten Jahrzehnten stark zurückgegangen. Galten die Kirchen in den 50er Jahren noch als wirkliche Repräsentanten der Bevölkerung eines Landes, so sind sie heute nur noch eine kleine Stimme unter vielen in den westeuropäischen Ländern.

 

Tabelle Religiosität und Spiritualität in ausgewählten Ländern Europas, 1998-2017[1]

Land Weder religiös noch spirituell in %
  1998 2017
Belgien 45 62
Dänemark 42 64
Finnland 33 54
Großbritannien 44 55
Italien 18 38
Niederlande 41 60
Norwegen 50 62
Portugal 25 18
Schweden 53 66
Gesamt 39 53

 

Keinen Nutzen mehr

Für den Einzelnen spielt heute weder die Zugehörigkeit zu einer Kirche noch die kirchliche Praxis oder die kirchlichen Überzeugungen eine Rolle. Ein Ende dieses Trends ist derzeit nicht abzusehen. Die Menschen werden nicht weniger spirituell, aber ihre Spiritualität ist nicht mehr konfessionell gebunden, sie wird sozusagen entprivatisiert. Selbst Menschen, die sich nach wie vor als Christen bezeichnen, sind der Meinung, dass sie dafür keiner Kirche angehören müssen. Die Gründe dafür sind vielfältig, würden aber den Rahmen dieses kurzen Beitrags sprengen. Ich möchte hier nur einen wesentlichen Grund nennen:

Westliche Individuen sehen in den Kirchen nur noch wenig Nutzen für sich.

 

Prägende Kraft in der Geschichte

In der Geschichte waren die Kirchen für viele soziale, wirtschaftliche und technische Veränderungen verantwortlich. Jesus war mit seiner Botschaft ein Revolutionär seiner Zeit. So war auch das frühe Christentum, das mit seiner Anthropologie und Ethik die bestehenden sozialen Hierarchien in Frage stellte. Die Klöster waren ausgeklügelte Unternehmen, die neue und nie dagewesene Verwaltungssysteme schufen. Die Domschulen waren die Vorläufer der berühmtesten Universitäten Europas. Auch in den Bereichen Literatur, Kunst und Architektur sind zahlreiche Fortschritte der Kirchen erwähnenswert.

 

Heute bewahrend und reaktiv

Doch im 20. und 21. Jahrhundert gibt es nicht mehr viel Nennenswertes. Im Gegenteil, den Kirchen haftet seit jeher das Image der Wissenschaftsfeindlichkeit an. Physiker haben fast alle technischen Geräte erfunden, die uns das Leben erleichtern. Biologen und Chemikern verdanken wir den medizinischen Fortschritt, und wer heute krank ist, geht nicht mehr zum Pfarrer, sondern zum Arzt. Die liberal geprägten Westeuropäer brauchen die Kirche eigentlich nur noch selten oder gar nicht mehr. Alles, was sie zum Glücklichsein brauchen, finden sie anderswo, und auf eine Verbotsethik, die ihnen Vorschriften macht, können sie gerne verzichten. Natürlich schätzen sie das Engagement der Kirchen für Bedürftige und manche auch das rituelle Angebot der Kirchen an den Lebenswenden, aber für mehr werden sie nicht mehr gebraucht.

Die Kirchen sind keine schöpferische Kraft mehr, sondern eine bewahrende und reaktive. Biologen haben Verhütungsmittel erfunden, und manche Kirchen überlegen noch heute, wie sie darauf reagieren sollen. Computeringenieure erfanden das Internet, und die Kirchen diskutierten, ob sie es nutzen sollten. Bei zunehmenden naturwissenschaftlichen Erkenntnissen fragen sich die Kirchen, ob sie noch an den biblischen Weltbildern festhalten sollen.

 

Keine neuen Erkenntnisse mehr

Gleichzeitig halten sie an alten, über Jahrhunderte gewachsenen Formen und Traditionen fest, auch wenn diese mit der Lebenswirklichkeit des modernen Menschen nichts mehr zu tun haben. Die Freikirchen verhalten sich zumindest in diesem Bereich anders. Aber auch sie haben keine wirklich neuen Erkenntnisse über Gott, die es in der Kirchengeschichte nicht schon gegeben hätte. Wirklich neue Aussagen über Gott, die von allen Kirchen geteilt werden könnten, kann heute keine Kirche mehr machen. Dabei ist Gott ist in seinen umfangreichen Eigenschaften ein Wesen, das noch nicht wirklich erforscht ist. Die mangelnde Einheit in theologischen Fragen und die mangelnde Erkenntnis über das eigene Kerngeschäft (Gott) machen die Kirchen in den Augen der säkularen westeuropäischen Gesellschaft noch unglaubwürdiger. Aber immer dann, wenn eine Religion für die Menschen keinen Nutzen mehr hatte, wurde sie bedeutungslos. Sie verschwand oder wandelte sich.

 

Pfingstkirchen trotzen dem Trend

Pfingstkirchen und andere evangelikale Kirchen verzeichnen außerhalb Europas ein größeres Wachstum. In Westeuropa ist dieses Wachstum nicht so üppig, aber dennoch kann man in den letzten Jahrzehnten von Zugewinnen sprechen. Worauf ist dies zurückzuführen? Die Soziologen Pollack und Rosta berichten, dass es in den Pfingstkirchen viele Möglichkeiten gibt, die man als Individuum nutzen kann. Das betrifft nicht nur die religiöse Praxis in den Gottesdiensten, sondern auch Freizeitaktivitäten wie Sport, Reisen, Bildungsveranstaltungen und andere Treffen mit Gleichgesinnten. Diese Gruppen helfen sich gegenseitig, stehen füreinander ein und schaffen Möglichkeiten zur persönlichen Weiterentwicklung. Da diese Kreise zudem zumeist aus ernsthaft Gläubigen bestehen, verleiht dies den Pfingstkirchen Stabilität.

Darüber hinaus legen diese Kirchen großen Wert auf die konkrete Erfahrbarkeit des Glaubens und befriedigen religiöse Bedürfnisse, die andere Kirchen offensichtlich nicht mehr erfüllen. Den Menschen in den anderen Kirchen fällt es dann nicht mehr schwer, die eigene Kirche zu verlassen und in den Freikirchen eine neue geistliche Heimat zu finden. Gerade in Brasilien findet ein solcher Umbruch in der katholischen Kirche statt.

 

Wie es weiter geht

Die Kirchen müssen also nicht vom Säkularisierungstrend erfasst werden, wenn es ihnen gelingt, sich von überholten Formen zu lösen und den Menschen einen echten Mehrwert zu bieten. Doch je größer und älter eine Institution ist, desto langsamer verändert sie sich.  Die Christenheit in Westeuropa muss sich also damit abfinden, dass sie langsam wieder zu einer kleinen und fremden Gruppe im eigenen Land wird, so wie sie es früher einmal war.

 

Quellen:

[1] RAMP 1998 auszugsweise zitiert nach Pollack/Rosta 2022: 246

Detlef Pollack/Gergely Rosta: Religion in der Moderne. 2022

Yuval Noah Harari: Homo Deus. 2020

www.ekd.de/ekd-statistik-22114.htm

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