Kann Gott hassen?

von Benjamin Sawadsky

Die Bibel ist der Liebesbrief Gottes an die Menschen“, habe ich in der Sonntagsschule irgendwann mal gelernt. Denn in der Bibel lesen wir, dass Gott jeden einzelnen Menschen bedingungslos liebt. Ja sogar noch mehr: Liebe beschreibt nicht nur das, was Gott tut, sondern auch das, was Gott ist. Gott ist Liebe (nach 1Joh4,16). Man könnte sagen: So wie es das Wesen der Sonne ist, zu leuchten, so ist es das Wesen Gottes, zu lieben.

Doch als ich diesen „Liebesbrief“ Gottes aufmerksam zu lesen begann, kam ich aus dem Staunen nicht mehr raus: Der Gott der Liebe kann hassen. Ja ja. Zum Beispiel hasst Gott Dinge, die ein Leben in Freude und Gerechtigkeit kaputtmachen – solche Dinge wie Heuchelei, Stolz und Überheblichkeit. Gott hasst eine lügnerische Zunge, Hände, die unschuldiges Blut vergießen, und ein Herz, das böse Pläne ausheckt.[1] Puuh. Das klingt hart. Wie ist es möglich, dass Gott, der seinem Wesen nach doch „pure Liebe“ ist, hassen kann?

LIEBEN & HASSEN: ZWEI GEGENSÄTZE?

In unserem Denken sind Liebe und Hass zwei w-e-i-t auseinander liegende Antipole – also zwei Gegensätze, wie Weiß und Schwarz. Unterschiedlicher geht’s nicht. Aber gucken wir genauer hin, dann liegen Liebe und Hass der Sache nach vielleicht enger beieinander, als wir denken.

Forscher des University College in London – eine der renommiertesten Universitäten weltweit – haben herausgefunden, dass unser Gehirn nicht in der Lage ist, zwischen Liebes- und Hassreizen zu unterscheiden.[2] Neurologisch betrachtet findet sowas wie Verliebtheit also in denselben Hirnregionen statt wie Verachtung. Vielleicht liegt es daran, dass auch rational betrachtet Liebe und Hass eine enge Verknüpfung haben. Denn ehrlich gesagt: Wir können nicht ernsthaft lieben, ohne zu hassen. Wir können das Leben nicht lieben, ohne gleichzeitig alles Lebenszerstörende zu hassen. Wir können die Wahrheit nicht begehren, ohne gleichzeitig die Lüge abzulehnen. Wir können uns nicht für Gerechtigkeit stark machen, ohne uns gleichzeitig gegen Ungerechtigkeit auszusprechen. Nach Römer 12,9 ist unsere Liebe erst dann aufrichtig, wenn wir das Böse hassen.

In diesem Sinne können wir festhalte: Gottes Liebe und Gottes Hass liegen ganz eng beieinander. Dass Gott Liebe ist, heißt nicht, dass er nicht hassen kann. Ganz im Gegenteil: Weil Gott liebt, kann er hassen. Weil Gott den Menschen liebt, kann er alles hassen, was den Menschen abwertet. Weil Gott das Leben liebt, kann er alles hassen, was das Leben zerstört. Gott hasst nicht trotz seiner Liebe. Er hasst wegen seiner Liebe. Liebe ist nicht einfach Friede, Freude, Eierkuchen. Liebe ist Feuer. Liebe ist Leidenschaft. Liebe ist eine Naturgewalt. Liebe ist nicht harmlos. Liebe heißt auch nicht, zu allem JA zu sagen. Es gibt das NEIN in der Liebe um des Geliebten Willen.

Ok, so weit so gut. Das leuchtet mir irgendwie ein. Aber nun bin ich in dem besagten „Liebesbrief“ auf einige Stellen gestoßen, die für mich eindeutig zu weit gingen, weil sich der Hass nun eindeutig auf Menschen auszurichten schien.

MENSCHEN HASSEN?

Hier mal zwei Beispiele: Nach Römer 9,13 hatte Gott einst Jakob geliebt, während er Esau gehasst hat. Wie bitte? Und als wäre dies nicht genug, fordert Jesus dann auch seine Jünger zum Hass auf. Nach Lukas 14,26 kann man nämlich nur dann ein Jünger von Jesus sein, wenn man seine Familie hasst – und dazu auch sein eigenes Leben. Was ist jetzt los? Fordert Jesus uns hier tatsächlich zum Familien- und Selbsthass auf? Mmh.

Wenn wir ein wenig recherchieren, dann stellen wir fest, dass Jesus an anderer Stelle das Gebot bestätigt, Vater und Mutter zu ehren. Er betont auch die Verantwortung der Männer für ihre Familien. Er spricht auch über den Wert der Kinder. Und im doppelten Liebesgebot bejaht Jesus eindeutig die Selbstliebe, wenn er sagt, dass wir unseren Nächsten lieben sollen „wie uns selbst“. Wie passt diese Haltung Jesu nun zu seiner Aufforderung, die Familienangehörigen und sich selbst zu hassen?

Schauen wir auf den Kontext von diesem Jesus-Wort, dann sehen wir: Jesus möchte hier gar kein Statement über das Hassen machen. Er möchte hier ein Statement über Jüngerschaft machen. Jüngerschaft meint den Prozess, bei Jesus zu sein, von ihm zu lernen und sich an ihm zu orientieren. Und Jesus sagt hier ganz offen, dass dieser Prozess einen Preis kostet. Jesus nachzufolgen, bedeutet nämlich, ihn zur höchsten Priorität zu erklären und alle anderen Dinge hintenanzustellen.

WER IST NUMMER 1?

Das Verb „hassen“ (gr. miseo) kann nicht nur im Sinne von „verabscheuen“ übersetzt werden, sondern auch im Sinne von „zurückstellen“ oder „an die zweite Stelle setzen“. Jesu Ruf in die Jüngerschaft fordert also unsere Bereitschaft heraus, alles andere zurückzustellen; sogar unsere Familie. Zugespitzt könnte man es so sagen: Unsere Liebe zu Jesus soll so stark sein, dass im Vergleich dazu die Liebe zu unserer Familie wie Hass erscheint.

Jesus möchte unsere Nummer 1 sein. Er möchte, dass wir ihn „mehr lieben“ als unsere liebsten Mitmenschen – so wird es in der Parallelstelle in Matthäus 10,37 formuliert. Gott liebt mit einer eifersüchtigen Liebe.[3] Darum teilt er seinen Thron mit niemandem, auch nicht mit denen, die uns am allerliebsten sind. Gott an die erste Stelle zu setzen, bedeutet, dass alles andere im Leben auf den Plätzen 2, 3, 4 und 5 landet.

Wenn wir das Wort „hassen“ im Sinne von „zurückstellen“ verstehen, dann leuchtet uns auch ein, was in Römer 9,13 gemeint ist, wenn Gott sagt, dass er Jakob geliebt, aber Esau gehasst hat. Gott hat Jakob aus Liebe erwählt. Und das hat gleichzeitig die „Zurückstellung“ Esaus bedeutet. Gott hasste Esau in dem Sinne, dass er ihm nicht den Vorzug gab. Sein JA zu Jakob hat gleichzeitig sein NEIN zu Esau bedeutet. Aber aus der Geschichte sehen wir, dass Gott sich auch um Esau weiterhin gekümmert hat.

Also: Kann Gott hassen? Ja, Gott kann hassen. Aber er hasst nicht trotz seiner Liebe. Er hasst wegen seiner Liebe. Sein Hass ist immer Ausdruck seiner Liebe.

 

[1] Jes1,14; 61,8; Am5,21; Spr8,13; 16,6

[2] https://gedankenwelt.de/was-passiert-in-unserem-gehirn-wenn-liebe-zu-hass-wird/ / https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0003556

[3] 5Mo5,9

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