Gibt es Flüche, die über Generationen bestehen bleiben?

von Johannes Justus

Immer wieder begegnen mir Menschen, die um Vergebung für ihre Vorfahren bitten, damit  die Schuld ihrer Vorfahren sie nicht einholt oder negative Auswirkungen auf ihr Leben hat. Auch gibt es ganze Kirchengemeinden, die Gott stellvertretend um Vergebung für das ganze deutsche Volk bitten, damit es frei werde von Flüchen oder so etwas wie einer Vorfahrenschuld.

Manche stellen sich dann die Frage, wieviel Vergebungsbitten es denn bräuchte, damit Gott Vergebung schenkt und eine Generationsschuld gebrochen wird. Andere sind der Meinung, dass man stellvertretend überhaupt keine Vergebung bewirken könne. Wieder andere halten es für befremdlich, dass so etwas wie eine Schuld überhaupt über Generationen hinweg bestehen bleiben kann. Was ist dran an diesem Thema? Mit diesem Artikel versuche ich, diese Problematik kurz zu umreißen und Antworten auf diese Fragen zu geben.

Der Ursprung der Gedanken

Der Gedanke, dass etwas wie ein Fluch oder eine Schuld über Generationen weitergegeben werden kann entspringt aus der Bibel selbst. So heißt es z.B. in 2. Mose 20,5f:

5 Du sollst dich nicht vor ihnen niederwerfen und ihnen nicht dienen. Denn ich bin der HERR, dein Gott, ein eifersüchtiger Gott: Ich suche die Schuld der Väter an den Kindern heim, an der dritten und vierten Generation, bei denen, die mich hassen; 6 doch ich erweise Tausenden meine Huld bei denen, die mich lieben und meine Gebote bewahren.

Dieser Abschnitt ist für die Christenheit immer ein bedeutender Abschnitt gewesen, denn er ist ein Teil der berühmten Zehn Gebote, daher hat er auch immer ein bedeutendes Augenmerk bekommen. Was aber bedeutet diese Aussage Gottes an dieser Stelle? Kann man sie so verstehen, dass jemand einfach das Glück hat, gute Vorfahren zu haben und deshalb gesegnet ist, während ein anderer schlechte Vorfahren hat und deshalb die Strafe für ihre Sünden tragen muss? So klar und eindeutig ist dies nicht gesagt. Denn wenn wir die anderen Stellen zu diesem Thema betrachten, kommt dieses Verständnis deutlich ins Wanken. Auch ist hier gar nicht gesagt, dass Gott die Schuld bei jeder Person heimsucht oder willkürlich handelt, sondern nur die zur Verantwortung zieht, die ihn „hassen“.

Seine Barmherzigkeit ist immer größer

Das eben erwähnte Gebot wird in 5 Mose 5,9f wiederholt, da ja in diesem Kapitel die zehn Gebote erneut aufgeführt sind. Auch in 2 Mose 34,6f wird diese Aussage wiederholt. Ein ähnlicher Text begegnet uns dann in 5. Mose 7,9f:

9 Daran sollst du erkennen: Der HERR, dein Gott, ist der Gott; er ist der treue Gott; noch nach tausend Generationen bewahrt er den Bund und erweist denen seine Huld, die ihn lieben und seine Gebote bewahren. 10 Denen aber, die ihn hassen, vergilt er ins Angesicht und tilgt einen jeden aus; er zögert nicht, wenn er ihn hasst, sondern vergilt ihm ins Angesicht.

An dieser Stelle hingegen wird die Barmherzigkeit herausgestellt und die Vergeltung Gottes deutlich auf den Einzelnen reduziert. Deutlich sichtbar ist auch an allen erwähnten Stellen, dass seine Barmherzigkeit größer ist als seine Vergeltungsabsichten. Die Aussage, dass Gott die Schuld der Väter an den Kindern heimsucht kann also nur so verstanden werden, dass er die Schuld dann heimsucht, wenn sich die Kinder mit den Sünden ihrer Väter ebenfalls schuldig machen oder aber die Sünden ihrer Väter soziale oder biologische Folgen für die Nachkommen haben.

So etwas existiert z.B. in der Form, dass negative Eigenschaften durch die Primärsozialisation weitergegeben werden. Das Leben der Eltern oder Großeltern beeinflusst das Leben der Kinder und Enkelkinder nachhaltig und dies umfasst aus meiner Sicht auch die geistliche Dimension. Gerade in der frühen Phase der menschlichen Entwicklung lernt man mehr durch Imitation, statt durch Information. Es ist z.B. kein Geheimnis, dass Kinder von Alkoholikern ein erhöhtes Sucht-Risiko haben. Ebenso ist es bei Kindern von Akademikern wahrscheinlicher, dass sie einen höheren Schul- und Berufsabschluss machen als Kinder von Arbeitern. Bei einem Kind, das im Ghetto aufwächst, wo die Kriminalitätsrate sehr hoch ist wird es wahrscheinlicher sein, dass es ebenfalls kriminell wird, als ein Kind, dessen Familie in einer weniger kriminellen Gegend lebt.

Es kann also sprichwörtlich ein Segen oder Fluch sein, unter entsprechenden Voraussetzungen, in einer bestimmten Gegend oder Familie geboren zu werden. Ausnahmen bestätigen Gott sei Dank auch hier die Regel. Dies macht das Kind jedoch nicht mitschuldig vor Gott. Es bleibt selbst verantwortlich für sein Leben, daher sollte sich niemand Sorgen darüber machen, ob er wegen seiner Vorfahren leiden muss, denn er ist zumindest auf diesem Gebiet unschuldig und durch Christus erlöst von der Macht der Finsternis (Kol 1,13).

Jeder ist für sich selbst verantwortlich

Dieses Verständnis ist leider nicht nur manche für heutige Christen verborgen geblieben, sondern es gab auch in Israel Menschen, die die Aussage aus dem Zehn Geboten völlig falsch verstanden haben. Dies wird besonders in Hesekiel 18,2-4 (Vgl. auch 18,20) deutlich:

2 Wie kommt ihr dazu, auf dem Ackerboden Israels das Sprichwort zu gebrauchen: Die Väter essen saure Trauben und den Söhnen werden die Zähne stumpf? 3 So wahr ich lebe – Spruch GOTTES, des Herrn -, keiner von euch in Israel soll mehr dieses Sprichwort gebrauchen. 4 Siehe, alle Menschenleben gehören mir. Das Leben des Vaters ebenso wie das Leben des Sohnes: Sie gehören mir. Der Mensch, der sündigt, nur er soll sterben.

Offenbar war man in Israel der Meinung, dass es eine Verbindung zwischen der Sünde der Väter und deren Kindern gäbe. Man kann von einer Art vermuteten Automatismus ausgehen, der sich durch die Generationen zieht. Man glaubte, dass die Väter gesündigt hatten und die Nachkommen die Schuld dafür ausbaden mussten. Dieser Überzeugung muss Gott durch den Propheten aber eine ganz klare Absage erteilen. Niemand sollte mehr dieses Sprichwort gebrauchen, denn Gott ist für alle Generationen gleichermaßen anwesend und es gäbe nicht etwas wie destruktive Mächte, die vererbt werden würden, über die Gott nicht verfügt.

Der Gedanke, dass jeder für seine eigene Schuld verantwortlich ist wird auch im Römerbrief von Paulus aufgegriffen. In Röm 14,1-12 geht Paulus auf den Konflikt zwischen zwei Gruppen in der Gemeinde ein, die um die rechte Glaubenspraxis bzw. Speisevorschriften stritten. Zusammenfassend kann er in Röm 14, 12 sagen, dass „jeder von uns für sich selbst Gott Rechenschaft geben“ muss.

Treffen unverdiente Flüche ein?

Davon abgesehen, wird bereits im Alten Testament sehr klar deutlich, dass Flüche nicht eintreten, wo Gott nicht verflucht. Dies wird an zahlreichen Stellen in der Bibel deutlich. Ein erstes Beispiel wäre die Geschichte von Bileam in 4Mose 22-23. Bileam wird von Balak aufgerufen, Israel zu verfluchen, doch sieht er schnell ein, dass dies nicht sinnvoll ist:

Doch wie kann ich verwünschen, / wen Gott nicht verwünscht, / wie kann ich verdammen, / wen der HERR nicht verdammt?  (4Mo 23,8)

Eine weiterer Text im Alten Testament, der sehr klar über dieses Thema spricht ist Sprüche 26,2:

Wie der Spatz wegflattert und die Schwalbe davonfliegt, / so ist ein unverdienter Fluch; er trifft nicht ein.

Als Glaubende stehen wir nicht schutzlos dar, sondern sind unter Gottes Schutz, der die Macht über alle Mächte hat.

Fazit

Wenn man den biblischen Befund betrachtet, wird unmissverständlich klar, dass so etwas wie eine vererbte Schuld nicht existiert, da jeder für sein eigenes Leben selbst verantwortlich ist. Die Überzeugung, dass sie existiert, ist offenbar ein theologisches Missverständnis, welches in Kirchengemeinden tradiert wird.

Daher würde ich Gott auch nicht stellvertretend um Vergebung bitten, denn ich kann keine Vergebung für die Sünden anderer bewirken. Dennoch halte ich es für sinnvoll, wenn man als Repräsentant einer Gruppe bei einer anderen Gruppe um Vergebung bittet. Dies ist ein wichtiger und versöhnlicher Akt und der „Versuch einer Wiedergutmachung“. Allerdings hat solch eine Handlung keine schuldmindernde Wirkung vor Gott.

Es existieren einige biblische Beispiele, in denen führende Geistliche, Gott um Nachsicht für aktuelle Taten der Menschen baten (2Mo 32,9-14; Dan 9; Esra 9). In allen Fällen versuchten die Leitenden Milde von Gott zu erbitten für die gegenwärtige Fehlhaltungen des Volkes. An keiner der Textstellen wird Vergebung für die Schuld vergangener Taten erbeten oder bestehende Flüche gebrochen. Die Beter erhofften sich, das Einlenken Gottes für das ganze Volk, jedoch blieb jeder einzelne für seine Taten selbst verantwortlich. Kurz: Sie identifizierten sich mit ihrem Volk, aber wurden nicht Stellvertreter für deren Schuld.

Gott sei Dank, haben wir einen Stellvertreter in Christus, der für all unsere Schuld am Kreuz gestorben ist und uns dadurch die Möglichkeit eröffnet hat, alle unsere Vergehen zum Kreuz zu bringen. Ihm ist alle Macht gegeben (Mt 28,18) und er ist Retter und guter Richter (Joh 12,47). Er hat uns losgekauft vom Fluch der Sünde, indem er selbst zum Fluch wurde (Gal 3,3).

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