Warum es mehr als zwei biblisch legitime Scheidungsgründe gibt

von Wayne Grudem

Die traditionelle Sichtweise auf Scheidung in der protestantischen Theologie hat sich seit der Reformation kaum verändert. Diese Perspektive hat ihre Wurzeln tief in der Tradition und den Schriften der Reformatoren, die in einer Zeit lebten, in der die soziale und rechtliche Struktur der Ehe eine andere war als heute. In der damaligen Gesellschaft war die Ehe eine fest verankerte Institution, und die Trennung von Ehepartnern wurde weitgehend als letzte Option gesehen. Die Reformatoren wie Martin Luther und John Calvin legten großen Wert auf die Aufrechterhaltung der ehelichen Bindung und sahen in der Ehe eine göttlich eingesetzte Institution, die nur in extremen Fällen aufgelöst werden sollte.

In meinem Buch „Christian Ethics“ aus dem Jahr 2018 habe ich argumentiert, dass die Bibel nur zwei legitime Gründe für eine Scheidung nennt: Ehebruch und das Verlassen eines ungläubigen Partners, basierend auf Matthäus 19,9 und 1Korinther 7,15. Dies entspricht der Sichtweise vieler renommierter Theologen und konfessioneller Bekenntnisse, wie etwa dem Westminster Bekenntnis. Aber was ist mit Härtefällen wie z.B. Missbrauch?

 

Ein Wandel in meinem Denken

Im Jahr 2018 sagte ich, dass Missbrauch keinen legitimen Scheidungsgrund darstellt. Stattdessen sollte man Schutzmaßnahmen ergreifen, kirchliche Disziplin anwenden und möglicherweise eine Trennung in Betracht ziehen, aber keine Scheidung. Doch während der Jahre 2018 und 2019 wurde ich zunehmend davon überzeugt, dass eine erneute Untersuchung notwendig ist. Ich wurde auf mehrere schreckliche Situationen aufmerksam, bei denen ich dachte: „Das kann nicht das Leben sein, das Gott für seine Kinder vorgesehen hat, wenn es eine Alternative gibt.“

Es wurde mir klar, dass der Schutz vor Missbrauch Vorrang haben muss.

 

Schreckliche Beispiele

  1. Auseinandersetzungen und Meinungsverschiedenheiten führten zu wiederholten Vergewaltigungen.
  2. Misshandelte Personen erhielten keine Hilfe, wenn sie sich an ihren Pastor wandten.
  3. Wiederholte Drohungen mit körperlicher Gewalt oder sogar Mord.

Es ist wichtig zu betonen, dass Missbrauch in seinen vielen Formen – physisch, emotional, psychologisch und finanziell – die Würde und Integrität des Opfers tiefgreifend untergräbt. Der Missbraucher nutzt Macht und Kontrolle, um das Opfer zu manipulieren und zu unterdrücken, was in direktem Widerspruch zu den biblischen Prinzipien von Liebe, Fürsorge und Respekt steht. Das Ziel einer Ehe, nämlich eine partnerschaftliche und liebevolle Beziehung, wird durch Missbrauch vollständig zerstört.

 

Biblische Argumente: Was sagt 1Korinther 7,15 wirklich?

Die Missbrauchsvorfälle, mit denen ich konfrontiert war, haben mich dazu gebracht, genauer in der Bibel nachzusehen.

Wenn aber der Ungläubige sich scheiden will, so lass ihn sich scheiden. Der Bruder oder die Schwester ist nicht gebunden in solchen Fällen. Zum Frieden hat euch Gott berufen. 1Kor 7,15

Die unmittelbare Interpretation bezieht sich darauf, dass ein Gläubiger nicht verpflichtet ist, eine Ehe aufrechtzuerhalten, wenn der ungläubige Partner die Ehe verlassen will.

Aber eine genaue Analyse des Ausdrucks „in solchen Fällen“ (ἐν τοῖς τοιούτοις) in 1Korinther 7,15 findet bei dieser Interpretation nicht statt. Bisher wurde dieser Ausdruck oft nur auf das Verlassenwerden durch einen ungläubigen Partner bezogen. Doch eine gründliche Untersuchung griechischer Literatur zeigt, dass dieser Ausdruck häufig eine breitere Anwendung hat und verschiedene Situationen umfassen kann, die eine Ehe zerstören.

Ein genauerer Blick auf den Kontext von 1Korinther 7 zeigt, dass Paulus in einem Abschnitt schreibt, der sich mit verschiedenen Eheproblemen und der Bedeutung des Friedens in der Ehe beschäftigt. Der Ausdruck „in solchen Fällen“ könnte also auf Situation angewendet werden, die den Frieden und die Heiligkeit der Ehe zerstört. Missbrauch stellt zweifellos eine solche Situation dar, da er die fundamentalen Prinzipien der ehelichen Liebe und des gegenseitigen Respekts verletzt.

 

Beispiele aus der griechischen Literatur

Ich war gezwungen, den Ausdruck „in solchen Fällen“ (ἐν τοῖς τοιούτοις) in der Umwelt des Neuen Testaments zu untersuchen, da diese Redewendung in der Bibel nur ein Mal vorkommt.  Meine Untersuchung von 52 Beispielen aus der griechischen Literatur zeigte, dass der Ausdruck „in solchen Fällen“ oft mehr als nur die spezifisch erwähnte Situation umfasst. In Philo Judaeus‘ De vita Mosis bedeutet der Ausdruck beispielsweise jede Art von plötzlichem tragischen Ereignis, während er in Euripides‘ Troiades jede Situation beschreibt, in der jemand plötzlich seine Freiheit oder sein Leben verliert. Diese breite Anwendung des Ausdrucks unterstützt die Ansicht, dass „in solchen Fällen“ auch Missbrauch einschließen könnte, da dieser die Ehe in ähnlicher Weise zerstört wie die Verlassenheit.

Diese Beispiele aus der griechischen Literatur verdeutlichen, dass der Ausdruck „in solchen Fällen“ eine Flexibilität und Weite hat, die es ermöglicht, verschiedene zerstörerische Szenarien zu umfassen. Dies legt nahe, dass Paulus möglicherweise eine breitere Anwendung beabsichtigte, die verschiedene Formen der Trennung und des Missbrauchs in der Ehe einschließt.

 

Die Bedeutung von „nicht versklavt“ und „Frieden“

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Bedeutung der Begriffe „nicht versklavt“ (οὐ δεδούλωται) und „Frieden“ (εἰρήνῃ) in 1 Korinther 7,15. Der Ausdruck „nicht versklavt“ deutet darauf hin, dass der verlassene (oder missbrauchte) Partner nicht gezwungen ist, in einer destruktiven Beziehung zu bleiben. Das Wort „Frieden“ wird hier im Sinne von Harmonie und Wohlbefinden verwendet, was im Widerspruch zu einer missbräuchlichen Ehe steht. Paulus kontrastiere diese Friedensvorstellung mit der Situation eines missbrauchten Ehepartners, der in einem ständigen Kriegszustand lebt.

Die Vorstellung, dass ein Ehepartner „nicht versklavt“ ist, impliziert eine Freiheit, die es ermöglicht, aus einer destruktiven und schädlichen Beziehung herauszutreten. Dies bedeutet, dass der missbrauchte Partner nicht dazu verpflichtet ist, in einer Situation zu verbleiben, die seine oder ihre geistige, emotionale und physische Gesundheit gefährdet. Der Begriff „Frieden“ hebt die biblische Vorstellung von einem harmonischen und liebevollen Miteinander hervor, das in einer missbräuchlichen Beziehung unmöglich ist.

 

Andere evangelikale Stimmen

Mehrere evangelikale Gelehrte und Gremien unterstützen ebenfalls die Ansicht, dass Missbrauch ein legitimer Scheidungsgrund sein kann. John Frame, David Clyde Jones und die PCA General Assembly haben alle Argumente vorgebracht, die Missbrauch als eine Form der Verlassenheit oder als radikalen Verstoß gegen den Ehevertrag betrachten. Auch in der puritanischen Tradition gibt es Hinweise darauf, dass physische Grausamkeit als Grund für eine Scheidung angesehen werden kann.

Diese Stimmen innerhalb der evangelikalen Gemeinschaft zeigen, dass es eine wachsende Anerkennung der Notwendigkeit gibt, Missbrauch als Scheidungsgrund zu betrachten.

 

Erste Priorität: Wiederherstellung der Ehe

Im Kontext der seelsorgerlichen Beratung sollte die Wiederherstellung der Ehe stets das vorrangige Ziel sein. Die Bibel, insbesondere 1Korinther 7,11-14, ermutigt dazu, alle möglichen Maßnahmen zu ergreifen, um die Ehe zu retten. Dies kann durch Beratung, vorübergehende Trennung und kirchliche Disziplin geschehen, wenn der missbrauchende Ehepartner ein bekennender Christ ist. Diese Maßnahmen bieten eine Möglichkeit, das Verhalten des missbrauchenden Partners zu ändern und die Ehe zu heilen.

 

Umgang mit Missbrauch in der Ehe

Wenn der missbrauchende Ehepartner ein bekennender Christ ist, kann die kirchliche Disziplin eine wirksame Methode sein, um den Missbrauch zu beenden. Sollte dies nicht zum Erfolg führen, erlaubt die Bibel der Kirche, den missbrauchenden Partner als Nichtchrist zu behandeln (Matthäus 18,17). Diese Vorgehensweise zeigt die Dringlichkeit und Ernsthaftigkeit, mit der die Kirche auf Missbrauch reagieren sollte.

 

Unzulässige Scheidungsgründe

Die Bibel weist jedoch auch klar darauf hin, welche Gründe keine legitimen Anlässe für eine Scheidung sind. Schwierigkeiten in der Ehe oder das Wunschdenken eines Ehepartners, jemand anderen zu heiraten, sind keine ausreichenden Gründe. Solche Situationen erfordern Geduld, Verständnis und den Versuch, durch Beratung und Gebet die Beziehung zu verbessern.

 

Einwände und Antworten

Ein häufiger Einwand gegen Scheidung ist die Frage nach der Möglichkeit einer lebenslangen Trennung ohne Scheidung. 1Korinther 7,15 stellt klar, dass eine durch einen ungläubigen Ehepartner verursachte Trennung den Gläubigen von den ehelichen Bindungen entbindet. Ein weiterer Einwand ist, dass eine Scheidung ein feierliches Bündnis bricht. Hier ist die Antwort, dass der missbrauchende Partner dieses Bündnis bereits durch sein Verhalten gebrochen hat.

Ein dritter Einwand betrifft die Sorge, dass durch die Erlaubnis zur Scheidung die Zahl unnötiger Scheidungen zunehmen könnte. Es wird jedoch betont, dass die Absicht nicht ist, „unnötige Scheidungen“ zu fördern, sondern ernsthafte Bemühungen zur Rettung der Ehe sollten immer zuerst unternommen werden. Dies dient dazu, gläubige Christen vor langjährigem Missbrauch zu bewahren.

Ein weiterer Einwand besagt, dass das Verbleiben in einer missbräuchlichen Ehe ein besseres Zeugnis für die Gesellschaft sei. Im Gegensatz dazu wird argumentiert, dass das Verlassen einer missbräuchlichen Ehe mit dem Segen der Kirche ein starkes Zeugnis dafür ist, dass Gott es schätzt, wenn wir diejenigen retten, die ungerecht leiden. Wenn möglich, sollten Gläubige dem Leiden entkommen, wie die Bibel in mehreren Stellen (Matthäus 6,13, 2Mose 20,2, 1Korinther 7,21) betont.

 

Schlussgedanken

Die Balance zwischen der Förderung stabiler Ehen und dem Schutz vor Missbrauch ist eine komplexe Aufgabe. Die Bibel bietet Richtlinien, die den Schutz und die Würde jedes Einzelnen betonen und gleichzeitig die Bedeutung der Ehe würdigen. Seelsorgerliche Beratung sollte darauf abzielen, Ehen zu heilen, während sie gleichzeitig sicherstellt, dass Missbrauch nicht toleriert wird. Dies erfordert Weisheit, Mitgefühl und einen festen Glauben an die Lehren der Bibel.

 

Der Artikel basiert auf einem Vortragsskript von Wayne Grudem, welches er uns zur Übersetzung genehmigt hat.

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