Der berühmte American-Football-Trainer Vincent „Vince“ Lombardi pflegte zu seinen Lebzeiten zu sagen: „Gewinner geben nie auf und Leute, die aufgeben, gewinnen nie.“ Damit hat er möglicherweise den Kern eines weit verbreiteten Denkmusters der westlichen Kultur getroffen: Bei uns gehört es zum guten Ton, nach Großem zu streben, dem eigenen Herzen zu folgen und sich durch nichts vom Erreichen seiner Träume abbringen zu lassen.
Aufgeben kommt nicht in Frage
Die Tugend, bescheiden zu sein und auch von etwas ablassen zu können, führt dagegen ein Schattendasein in unserer Gesellschaft. Aufgeben wird selbst in frommen Kreisen ungern gesehen. Doch ist dieses Denken immer weise? Was ist, wenn unsere Sehnsüchte und Träume nicht nur überhöht und unrealistisch sind, sondern auch das Maß der eigenen Gnade überschreiten?
Welche Folgen ziehen diese Haltung und diese falschen Zielsetzungen nach sich?
Ich bin der Meinung, dass sich ein Mensch nichts nehmen kann, wenn es ihm nicht vom Himmel gegeben worden ist (Joh 3,27). Dasselbe gilt auch für die Gnade, wie sie im Neuen Testament beschrieben wird: Sie wird verliehen und lässt sich von uns Menschen weder erkaufen noch erstreiten. Wir können suchen, finden und ergreifen, was Gott für uns hat. Harte Arbeit und alles Mühen werden uns jedoch nicht zum Erfolg verhelfen, wenn wir an uns reißen, was uns nicht gegeben ist.
Dieses Dilemma erinnert mich immer wieder an 1Petr 4,15:
„Niemand aber unter euch leide als ein Mörder oder Dieb oder Übeltäter oder als einer, der in Fremdes eingreift.“
Leiden aufgrund von Wichtigtuerei
Die junge Christenheit, die Petrus in diesem Abschnitt zu ermutigen versucht, litt unter Verfolgung und Bedrängnis. Solange sie diese aber wegen ihres Herrn Jesus Christus erduldeten, waren sie als glücklich zu preisen (V14). Kein Christ sollte sich jedoch deswegen quälen, weil er ein Mörder, Dieb oder Verbrecher ist oder sich in fremde Dinge einmischt.
Das Wort, welches Petrus hier als letztes in seiner Aufzählung verwendet, ist in der Bibel einmalig und auch der antiken Literatur des ersten Jahrhunderts fremd. Am häufigsten wird es wohl im Sinne von „Wichtigtuer“ oder „Eindringling“ verstanden. Wortwörtlich übersetzt bedeutet der Ausdruck „Bischof über Fremdes“. Es handelt sich dabei offenbar um eine Person, die sich in die Angelegenheiten anderer einmischt. Als solche soll kein Christ leiden.
Konsequenzen von Überheblichkeit
Ich finde es beachtlich, dass Petrus eine solche Überschreitung der Befugnis mit Schmerz in Verbindung bringt. Denn statt einfach zu erwähnen, dass sich derlei Verhalten für einen Christen nicht gehört, sagt er kurz und bündig, was Wichtigtuerei für Konsequenzen nach sich zieht: Es bedeutet persönliches Leid für den Schuster, der nicht bei seinen Leisten bleiben will.
Ich bin der Überzeugung, dass Menschen, die versuchen, sich etwas zu nehmen, was ihnen der Herr nicht zugeteilt hat, Trübsal in unterschiedlicher Form erleben werden. Diese kann sich in Stress, Enttäuschungen, Überforderung, Scheitern und Zerbruch äußern – um nur einige Formen zu nennen. Zudem ist auch die Gemeinde Jesu zwangsläufig mit betroffen, wenn ihre Glieder nicht an dem von Gott zugeteilten Platz bleiben.
Machtspiele in Gemeinden
Durch meinen Reisedienst und die beratende Arbeit werde ich oft Zeuge von Machtspielen in Gemeinden. Leider belebt die Konkurrenz nicht immer das Geschäft. Sie kann auch zum Krieg führen und aus Kriegen gehen bekanntlich nur Verlierer hervor und keine Gewinner. Gemeinden werden durch diese internen Zwistigkeiten zermürbt oder im schlechtesten Falle zerrissen. Dies schadet nicht nur dem Leib Christi selbst, es ist auch dem Evangelium abträglich, denn unsere Mitmenschen, denen wir die Botschaft von Liebe und Vergebung weitergeben, sehen, wenn sich in unseren Gemeinden Streit und Missgunst ausbreiten.
Keine Konkurrenz- und Rangkämpfe
Christen scheinen leider die einzige Rasse von Schafen zu sein, die sich gegenseitig beißt. Eigentlich müsste es in der Gemeinde Gottes keine Konkurrenz- und Rangkämpfe geben. Viele Konflikte und Kleinkriege könnten verhindert werden, wenn jeder nur danach suchen würde, was ihm von Gott zugeteilt ist, statt in Fremdes einzugreifen. Auf diese Weise könnten meiner Meinung nach viele Streitigkeiten und Konflikte von Anfang an vermieden werden und die Gemeinden wären zudem stärker und einflussreicher.
Diese Ermahnung gilt nicht nur denen, die einen Dienst an sich reißen. Auch Leiter sind ihrerseits verantwortlich, anderen ihren rechtmäßigen Platz zuzugestehen und Einflussbereiche nicht für sich allein zu behalten. Daher lautet mein Motto nicht nur: „Ich lasse die Ergänzung zu.“ Vielmehr lautet es: „Ich suche die Ergänzung aktiv.“
Maß der Gnade erkennen und darin bleiben
Wir sind selbst dafür verantwortlich, unser von Gott gegebenes Maß zu erkennen und darin zu bleiben. Paulus rief seine Glaubensgeschwister vermehrt dazu auf, sich selbst richtig einzuschätzen. So gab es wohl in den Kreisen der römischen Christen Geschwister, die daran erinnert werden mussten, sich selbst nicht zu viel Wichtigkeit beizulegen:
„Denn ich sage durch die Gnade, die mir gegeben ist, jedem unter euch, dass niemand mehr von sich halte, als sich‘s gebührt, sondern dass er maßvoll von sich halte, wie Gott einem jeden zugeteilt hat das Maß des Glaubens.“ (Röm 12,3)
Nüchternheit bei der Selbsteinschätzung
Der Apostel spricht hier von einer Nüchternheit bei der Selbsteinschätzung. Was derzeit der genaue Hintergrund seiner Worte war, bleibt ungewiss, aber es ist davon auszugehen, dass es Persönlichkeiten in seinem Umfeld gab, die nach mehr strebten, als für sie vorgesehen war. Ein weiterer Abschnitt, in dem Paulus seine Leser dazu ermutigt, maßvoll zu bleiben, ist 1Kor 7,17:
„Doch soll jeder so leben, wie der Herr es ihm zugemessen, wie Gott einen jeden berufen hat. So ordne ich es in allen Gemeinden an.“
Die rettende Gnade Gottes, die uns zu seinen Kindern macht, schafft die große Verschiedenheit der Menschen nicht aus der Welt. So soll jeder sein Leben gestalten, wie Gott es für ihn vorgesehen hat. In den vorhergehenden Versen gibt Paulus noch Ratschläge an Menschen, die einen ungläubigen Partner haben (1Kor 7,12-16). Er verdeutlicht aber gleichzeitig, dass diese Tipps seine persönliche Meinung widerspiegeln und letztlich jeder selbst verantwortlich ist, die Berufung Gottes für sein Leben zu erkennen und umzusetzen.
Stetige Suche nach Gottes Ratschluss
Norbert Baumert formuliert die Worte von Paulus hier auf treffende Weise neu: „Du mußt also meinen Rat noch einmal für dich überdenken und vor Gott prüfen, ob er in deinem Falle zutrifft. Und dieses Prinzip gilt immer!“ Selbst der weise Rat von Aposteln ist nicht unumstößlich, wenn es darum geht, was der Herr einem Menschen zugemessen hat. Daher ist ein jeder selbst herausgefordert, allezeit Gottes Ratschluss für sein Leben zu suchen. Diese Suche sollte nie ganz abgeschlossen sein, denn das Leben und unsere Aufgaben darin unterliegen einem stetigen Wandel: Der Mensch gerät immer wieder in neue Entwicklungsphasen und vollendet diese. Sie kommen und gehen vorüber. Das Suchen nach dem eigenen Maß der Gnade gleicht somit einer Reise, auf welcher der Kurs auch immer wieder überprüft und nachkorrigiert werden muss. Auf diese Weise gelangen wir gewiss zum Ziel und vermeiden Verirrungen.